Davidstern an deiner Tür – mein offener Brief an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Deutschlands

Es ist schwer vorstellbar, wie es im Moment vielen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland geht.

Was ich höre, mutet für mich surreal an – wir reden hier nicht über Nahost, sondern unsere Nachbarschaft.

Juden berichten, dass sie ihre Kinder aus Angst nicht mehr in jüdische Kitas schicken, dass jüdische Restaurants schließen.

Dass jüdischer Religionsunterricht nicht zustande kommt – aus Angst vor Stigmatisierung.

Die Juden, die ich persönlich kenne, sind sehr unterschiedlich: Es gibt darunter die „typischen Orientalen“, die Temperamentvollen.

Die Zurückhaltenden, die Gründlichen, die „typisch Deutschen“.

Viele, denen ich begegnet bin, sie sind quirlig, selbstbewusst und fröhlich, gestikulieren viel, reden schnell und mit interessanter Intonation.

Andere wirken verschlossen, sensibel und schüchtern.

Genau wie wir, meine Güte.

Ich erinnere mich gerne daran, wie ich mir vom seligen Meinhard Tenné in Stuttgart beibringen ließ, wie man Shalom auf Hebräisch schreibt.

Ich war einerseits verblüfft über die extreme Andersartigkeit der Schrift im Vergleich zum Arabischen, das doch zur gleichen semitischen Sprachfamilie gehört.

Als ich dann später hebräische Grammatik lernte, war ich dann wieder schockiert darüber wie unfassbar ähnlich sich beide Sprachen sind.

Ich habe eine ganze Reihe grammatischer Phänomene und Suffixe im Hebräischen teils bis ins feinste Detail aus meinen Arabischkenntnisse vorab erraten können.

Heute noch experimentiere ich gerne und unverbindlich mit meiner eigenen Ästhetik, anhand koranischer und biblischer Verse über die Schöpfung, indem ich die koranische Basmala spreche, dann ein paar Sätze auf Hebräisch aus dem Bereshit der Torah über den Beginn der Schöpfung zitiere, und dann wieder koranische Berichte auf Arabisch über das weitere Schöpfungswerk.

Ein ungeübtes Ohr würde vielleicht gar nicht merken, dass dies Zeilen aus zwei theologisch eng verwandten Texten sind, zwischen denen fast zwei Jahrtausende liegen.

Gänzlich überwältigt war ich, als ich erfuhr, dass viele Werke desjenigen islamischen Philosophen, der mich in den letzten Jahren am meisten beschäftigt und begleitet hat – Ibn Ruschd alias Averroes (gest. 1198) – nicht im Arabischen, dafür aber im Hebräischen erhalten sind.

Jüdische Philosophen hatten sich nach dem Tod des Andalusiers daran gemacht seine Schriften zu studieren, aus dem Arabischen ins Hebräische zu übersetzen – um so das Hebräische für Spätgeborene wie mich auch zu einer Sprache der islamischen Philosophie zu machen.

Ich habe oft mit einem gewissen Stolz darauf hingewiesen, dass sich Islam und Judentum theologisch in vielen Punkten näher sind als Islam und Christentum.

Salam alakyum & Shalom aleichem.

Das waren meine simplen Thesen, mit denen ich viele Skeptiker einer Verständigung zwischen Juden und Muslimen verblüfft habe.

Die Juden.

Ich habe neben ihrer oft auf mich irgendwie südländisch, ja sogar türkisch – hier im Sinne von „sehr vertraut“ – wirkenden Art im Laufe der Jahre noch etwas bemerkt, das vielen von ihnen gemeinsam zu sein scheint.

Ihr Blick wirkt auf mich oft traurig.

Ich kann das gar nicht so genau umschreiben.

So als ob sie nie ganz im Hier und Jetzt ankommen können, obwohl sie sich das sehr wünschen.

So wie ich selbst.

So wie auch die meisten anderen Menschen um mich herum, die Zeit ihres Lebens versuchen herauszufinden, wer sie sind, wer sie sein wollen.

Und wie sie darum bangen, ob es ihnen auch heute gelingen wird ihr Umfeld davon überzeugen, dass sie wirklich sie selbst sind, und dass sie es leid sind, sich sisyphusartig erklären zu müssen.

Menschen, die Zeit ihres Lebens umgetrieben sind.

Jetzt, wo das Chaos in der Welt tobt, lese ich von manchen von ihnen enttäuschte, wütende, fordernde Statements.

Ich sehe manches anders, als manche von ihnen. Aber das ist hier absolut irrelevant.

Ihr Leben normalisiert sich nicht, junge Jahre werden überlagert von etlichen Kämpfen und Spannungen, mal mehr, mal weniger.

Ich kenne Jüdinnen, die ihre jungen Jahre dazu nutzen medial für ihre Gemeinschaft zu sprechen.

Und es auf sich nehmen täglich die Lasten des Shitstorms, des Falschverstandenwerdens und der unvorhersahbaren Anfeindungen zu ertragen.

Es ist das Gefühl für alle und alles verantwortlich zu sein.

Wie gut ich das Gefühl kenne…

Aber wie viele unserer türkischen Männer – ich eingeschlossen – haben diese Kraft all dies öffentlich und ungeschützt täglich zu stemmen?

Aber was wichtiger und alarmierender ist:

Viele sagen, dass sie Angst haben.

Tiefe Angst.

Von dieser Angst kommen bei vielen von uns nur die Buchstaben an… der eigentliche Inhalt bleibt uns ewig verschlossen.

Sie sprechen nicht gerne von Angst – gerade weil die meisten von ihnen nicht wollen, dass jüdische Teilidentität in erster Linie im Kontext von Verfolgung und Leid thematisiert wird.

Aber sie tun es trotzdem – weil die Situation und ihre Assoziationen dies zu erzwingen scheint.

Dies ist ein herber innerer Kampf.

Angst sprengt jeden politischen Konflikt, was weiß ich wo auf der Welt.

Aber selbst dies lässt man ihnen nicht: Wie sehr sie auch Deutsche sind und als Deutsche behandelt werden wollen – der Diskurs bringt sie in eine Position, in der ihnen die Rolle des Sprechers für die Politik eines anderen Landes reserviert zu sein scheint, für die sie nichts können, aber für die sie trotzdem nun Verantwortung tragen sollen.

Ich habe gelernt stolz auf meine gemischte Identität zu sein, auf meine deutsch-türkisch-islamische Identität.

Aber auch ich kenne Momente der Angst, der Unsicherheit und der Verrückung damit.

Aber nein, die Angst von der sie sprechen, ist eine andere.

Ich musste nie aus Angst darauf verzichten in die Moschee zu gehen.

Auch wenn es mir oft etwas unangenehm ist, wenn beim Freitagsgebet die Gemeinde so groß wird, dass wir teils auf der Straße beten müssen, ungeschützt vor eventuell missbilligenden Blicken.

Zugleich weiß ich auch: Als muslimischer Mann habe ich es leichter in Deutschland als viele muslimische Frauen, von denen manche ein Kopftuch tragen und somit immer als Muslimin erkennbar sind, auch wenn sie sich täglich nur wünschen absolut normal behandelt zu werden, wohlwissend, dass dies vielen Deutschen um sie herum nicht gelingen wird.

Aber was es bedeutet, wenn jemand in der jetzigen Atmosphäre einen Davidstern an deine Wohnung zeichnet – das kann ich mir nicht mehr vorstellen.

Die historischen Assoziationen sind furchtbar.

Es ist das eine, wenn du dich dazu entscheidest in einem bestimmten Moment oder dauerhaft Symbole deiner Identität zu zeigen.

Es ist aber ein unendlich anderes, wenn man dir ein Symbol deiner Identität an deine Tür ritzt.

Die Bedeutung lautet:

„Hier sind sie! Entblößt! Ihr wisst, wie mit ihnen zu verfahren ist!“

Ein Alptraum, auch von mir – dass ich eines Tages aufwache und dergleichen in Bezug auf meine islamische Teilidentität an meiner Wohnung vorfinde – und noch schlimmer, wenn du Frau und Kinder hast.

Ich wünschte, es wäre nie zu all dem gekommen, was viele jüdische Menschen in diesen Tagen durchleben, während Menschen wie ich emotional gerade auf das Leid im Gaza-Streifen fixiert sind.

Ich wünschte, wir hätten diese Ideologie des Hasses, die hier mancherorts sein hässliches Haupt emporhebt, längst im Keim erstickt.

Gerade auch als Muslime, gerade auch in manchen düsteren Verästelungen des innerislamischen Diskurses, die in einem ursächlichen Zusammenhang zu manchen dieser Phänomene stehen könnten.

Damit diese Menschen dergleichen nun nicht erleben müssen – im Hier und Jetzt, an ihrer realen Wohnung, der Wohnung ihrer Eltern und ihrer Kinder.

Das Resultat: weder dort zuhause, noch hier, ewig Suchende.

Das denke ich mir, wenn ich an euren Synagogen vorbeilaufe und versuche interessiert die zehn Gebote auf Hebräisch zu entziffern – und kurz danach den Streifenwagen sehe und mich irgendwie ein Gefühl der Scham heimsucht.

Da dürfte kein Streifenwagen stehen müssen.

Und wir dürften nicht tagein tagaus über Konflikte im fernen Ausland diskutieren müssen.

Vielleicht kehrt deswegen der traurige Blick nie ein.

Eine Last, die trotz all eurer Hinweise unsichtbar für die meisten von uns geblieben ist und bleibt.

Ich wünschte, wir könnten eure Last teilen.

Ihr habt sie mit uns getragen, als in Deutschland Moscheen angegriffen wurden.

Als islamfeindliche Parteien um eure Anerkennung buhlten, aber ihr abgelehnt habt.

Wir haben euch dies damals zu wenig gedankt.

Ich wünsche mir, wir können nun wenigstens eure Last etwas teilen…