Wenn Islamkritik nicht gegen Antisemitismus hilft – eine Kritik an A. Ourghis Artikel „Woher kommt der Hass?“ (16.11.23)

Ich möchte hier drei kritische Einwände gegen die Thesen in Abdel-Hakim Ourghis Zeit-Artikel „Woher kommt der Hass?“ (am 16.11.23 in der Rubrik „Glauben & Zweifel“ erschienen) anbringen. Vorweg: Da Ourghis im Folgenden behandelter Artikel als Zusammenfassung zentraler Thesen seines Buches „Der Koran und die Juden“ (Claudius 2023) gelesen werden kann und zugleich im Kontext seiner allgemeineren Islamkritik betrachtet werden sollte, werde ich zusammen mit dem Artikel stellenweise auch auf diese Bezüge eingehen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung speziell mit seinem Buch „Der Koran und die Juden“ wird an anderer Stelle erfolgen. Nun zum Artikel:

Einleitung: „Tut Buße, liebe Muslime!“

Der Freiburger Islamkritiker Abdel-Hakim Ourghi hat am 16. November in der Zeit die Frage gestellt: „Woher kommt der Hass?“ Er meint den Hass von Muslimen auf Juden und Israel. Seine Antwort ist ebenso einfach wie verstörend: Der Hass auf Juden, der sich am 7. Oktober 2023 entlud, hat laut ihm seine Wurzeln im Koran und im Beispiel des Propheten. Das Sündenregister, das der Koran den Juden anlastet, war demnach die Vorbereitung des Propheten Muhammad für die bevorstehende Vertreibung, Massenexekution und Versklavung der jüdischen Stämme in Arabien. Dieser im Islam angelegte Antisemitismus habe über Jahrhunderte zu antijüdischen Pogromen in der islamischen Welt bis heute geführt. Sein Fazit ist drastisch: Damit es Frieden mit den Juden und Israel geben kann, genügt die Beteuerung eines friedlichen Islams nicht. Vielmehr bedarf es eines öffentlichen Schuldbekenntnisses der Muslime. Die Anforderungen hierzu führt Ourghi am eigenen Beispiel vor. Dazu gehört sich öffentlich die „Wahrheit über den Koran einzugestehen“, ebenso wie anzuerkennen, dass das politische Handeln Muhammads gegenüber den Juden „eine Schande“ war, „die nicht aus der kollektiven Erinnerung der Muslime verdrängt werden darf.“

Ourghis Reflexion widerspiegelt den Weg eines muslimischen Individuums, das in jungen Jahren laut eigener Aussage als indoktrinierter Antisemit nach Deutschland kam und nach einiger Erschütterung den Weg der radikalen Distanzierung von seiner traditionellen muslimischen Identität und einer völligen Neukonzipierung derselben wählte. Seine Selbstbefreiung beschreibt er als Emanzipation aus einem Kollektiv, dem er rückblickend nun Schuld zuschreibt, ihm aber auch Absolution in Aussicht stellt: Das öffentliche Eingeständnis von Schuld und Schande wird zur Erlösung führen. Denn es ist der einzige Weg zum Frieden. Ourghi selbst ist das Rollenmodell hierfür: Vom eingewanderten Antisemiten zum Verkünder öffentlicher Selbstanklage bekehrt, spricht Ourghi als messianischer Erlöser von der Last, die Muhammad und der Koran den Muslimen und durch sie der restlichen Welt aufgebürdet hatten.

Es ist nicht analytische Wissenschaft, sondern Predigt und Ermahnung, die Ourghi stellvertretend für die Muslime in Wir-Form formuliert: Wir müssen uns erinnern. Wir müssen unsere Fehler zugeben, aus ihnen lernen, uns somit zum besseren verändern. Denn: „Ehrliche Erinnerungsarbeit ist Selbstbefreiung.“ Die sich nicht so erinnern Könnenden, die Unehrlichen bleiben unerlöst. Die geforderte Ehrlichkeit wiederum ist ein schmerzhafter Transformationsprozess. Er führt bis an die Grenze zum Selbsthass. Ein Schönreden des Islams, eine Verweigerung der Buße wird kategorisch verurteilt. Ourghi hat somit letztlich seinen eigenen intellektuellen Werdegang vom Antisemiten zum feurigen Islamkritiker zum Idealtypus der uns anderen Muslimen bevorstehenden Befreiung erklärt.

Was Ourghi systematisch ausblendet, ist die Tatsache, dass es in dieser Welt nach einer intellektuellen Erschütterung sehr verschiedene Pfade der Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung gibt. Auch als Anhänger der Korans und des Propheten. Sozialisation und Bildung sind pfadabhängig, und tragen somit immer auch die Signatur der eigenen Biografie und Synthesearbeit in sich. Und doch gesellen sich ähnliche Menschen dabei oft zusammen. Ourghis Weg ist im Horizont des von ihm angeprangerten muslimischen Kollektivs jedoch ein unwahrscheinlicher Weg: Er ist eine Aufforderung an Muslime zur Maximierung der Selbstnegation, in Ergriffenheit vorgetragen vor einem mehrheitlich nicht muslimischen Publikum, in dem klare und einfache Verurteilungen islamischer Identität einige Wertschätzung genießen. Zumindest die Wertschätzung des Tribunals populistischer Kulturwächter.

Ourghis Einladung ist eine, die nicht nur die als konservativ bezeichneten, sondern auch die meisten als liberal geltenden Muslime nicht anzunehmen bereit sind. Hierzu gibt es neben einfachen Gründen wie der Angst vor Komfortverlusten mindestens drei nicht triviale Gründe. Zusammengefasst sind dies (1) die laute, geradezu devot wirkende Übernahme des populistischen Anti-Islam-Diskurses in Ourghis Argumentationen und Beschwörungen, (2) der Absolutheitsanspruch seines islamkritischen Erlösungsweges sowie (3) seine höchst ungewöhnliche Art der Bezugnahme auf die akademische Islamwissenschaft. Diese drei Punkte scheinen mir nicht nur für den Artikel, sondern für Ourghis gesamte Islamkritik so zentral, dass ich sie nun etwas ausführlicher darstellen möchte.    

Kritikpunkt 1: Populistische Islamkritik

Ourghi paraphrasiert zahlreiche Thesen, Argumente und Sprechformen des islamkritischen Diskurses vor allem rechtspopulistischer Prägung, die keine positive Identifikationsmöglichkeit innerhalb des Islams übriglassen, ehe nicht das geforderte Schuldbekenntnis abgelegt wird. Dies ist seit Jahren gewohnter Duktus des erklärten Reformers Ourghi. Ungünstige sozioökonomische, historische oder politische Missverhältnisse reichen demnach nicht aus um die Ausbildung von Gewaltbereitschaft, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit in manchen muslimische Milieus zu erklären. Sondern es sind ganz grundsätzlich der Koran und der Prophet des Islams, die hier die entscheidende Rolle spielen. Damit werden soziologische Erklärungsansätze bagatellisiert und zugleich alle bekennenden Muslime unter Generalverdacht gestellt. Selbst die durch Alkohol enthemmten jungen Männer in der Kölner Silvesternacht 2015, deren sexuelle Übergriffe die Republik beschäftigten, wurden von Ourghi in einem Statement für das Nachtmagazin der Tagesschau wenige Wochen nach den Übergriffen als Vollstrecker des Korans und von Prophetenworten identifiziert (Mitschnitt siehe hier). Die völlig plausible Rückfrage des Nachrichtensprechers, ob Ourghi mit seinen schockierenden Aussagen nicht „ uralte Stereotype vom fremden Barbaren, der die unschuldige weiße Frau bedrängt“ (ab 0:47) bediene, wurde von Ourghi nicht beantwortet. Stattdessen gab es mehrere Zitate aus islamischen Quellen zu hören. Diese bilden laut Ourghi die „theoretische Basis“ von Grapschern (Mitschnitt 1:23). So sieht also der epistemische Anspruch aus: Das Zitieren von Texten genügt um Generalisierungen zu begründen und Soziologie lächerlich zu machen. Und obwohl die Lebensweise der besagten Männer offensichtlich vom Islam mit seinem Alkoholverbot weit entfernt war: In ihren Herkunftsgesellschaften muss es laut dieser deduktiven Logik die Wirkung des Korans und des Propheten gewesen sein, die ihnen ihr frauenverachtendes Weltbild einpflanzte.

Dieselbe Argumentation begegnet uns nun im Artikel: Der Terror der Hamas ist laut Ourghi nichts anderes als die natürliche Folge desselben im Koran angelegten islamischen Antisemitismus, wie alle andere Gewalt gegen und Diskriminierung von Juden in der islamischen Welt. Weitere mögliche Faktoren oder Differenzierungen werden weder erwähnt, geschweige denn diskutiert, positive Beispiele für pogromfreie Jahrhunderte wie ein kurzer Aussetzer des „eigentlichen“ (also: bösen) Islam behandelt. Ourghi will schließlich Probleme eingestehen und nichts schönreden. Dabei behandelt er die betrunkenen Grapscher und Terroristen unter den Muslimen als die authentischsten Repräsentanten der Weltreligion des Islam. Das Böse: Das ist die Essenz des Islams. Wir können uns nur befreien durch das Bekenntnis der Schuld, die Terroristen stellvertretend für uns begehen, oder die Muslime in der Geschichte begangen haben. Will heißen: Wer sich nicht bekennt, darf sich über den Generalverdacht, der auch ihn trifft, nicht echauffieren. Muslime können darum auch nie Opfer sein, zumindest nicht Opfer von Christen und Juden. Sie können höchstens Opfer von noch konservativeren Muslimen sein – aber viel eher, ja fast immer sind sie die Täter. Das Blut der Unschuldigen klebt an ihren Händen. Und wer dies nicht bekennt, macht sich zum Mittäter.

Kritikpunkt 2: Ourghis islamkritischer Absolutheitsanspruch

Dieser Einseitigkeit und Pauschalität in Ourghis Argumentation wäre vielleicht auszuhalten, wenn er sich als eine legitime Perspektive unter mehreren legitimen innerhalb eines breiten Meinungsspektrums im Islam darstellen würde. Dem scheint jedoch nicht so. In Kapitel 3 seines aktuellen Buches „Der Koran und die Juden“ bürdet er anderen liberal geltenden Muslimen (konkret: Mouhanad Khorchide), die im Vergleich zu Ourghi ein weniger düsteres Bild von der Geschichte der Juden im Islam zeichnen, „doppelte Schuld“ auf. Dies unterstreicht: Keiner kommt zur Erlösung, außer durch Ourghi.

Schon in seinem Buch „Reform des Islam: 40 Thesen“ (Claudius 2017) hatte Ourghi in exklusivistischem Geist geschrieben: „Der nicht reformierte Islam ist keine Religion des Friedens“ (These 37) und „Nur ein liberaler Islam ist zukunftsfähig“ (These 40). Zugleich waren Ourghis Reform- und Liberalitätsthesen schon damals derart eng gehalten, dass es kaum möglich ist sich als Muslim darin zurechtfinden, wenn man seine Thesen wirklich ernst nehmen möchte. Laut Ourghi ist beispielsweise der Satz „… und Muhammad ist der Gesandte Gottes“ im islamischen Glaubensbekenntnis eine spätere Hinzufügung zum „Es gibt keinen Gott außer Allah“. Sätze wie diese hinzuzufügen, wie es praktisch alle Muslime tun, sei gleichbedeutend mit Vielgötterei (These 14). Damit erklärt Ourghi schon die erste der fünf Säulen des Islam zu Polytheismus. Dieser harte Exklusivismus mag dem nichtmuslimischen Leser bei der Lektüre nicht auffallen, geschweige denn negativ aufstoßen. Dem noch so offenen und muslimischen Leser präsentieren sich diese und etliche ähnlich exklusivistische Aussagen als Zugangshürde, die man nur nehmen kann, wenn man sie nicht ernst nimmt.

Entsprechend ist auch Ourghis Liberalitätsverständnis höchst durchwachsen. So sah sich selbst der Liberal-islamische Bund 2016 genötigt sich von Ourghi aufgrund seiner mutmaßlich Rassismus fördernden Verlautbarungen zu distanzieren. Ourghi hat sich in dieser Hinsicht bis heute leider nicht verändert. Auch im hier kritisierten Artikel wiegelt er den Vorwurf der rechten Szene zuzuspielen, mit den Worten ab: „Es ist nicht islamfeindlich, sich die Wahrheit über den Koran einzugestehen.“ Aber: Hinsichtlich der „Wahrheit über den Koran“ gibt es neben der radikal-islamkritischen von Ourghi differenziertere andere Meinungen, die nach meinem Eindruck besser fundiert und durchdacht sind als Ourghis pauschale Islamkritik. Warum sollte ein kritischer, reflektierter Muslim ausgerechnet Ourghis maximalistischen Weg wählen? Ich finde hierfür keinen plausiblen Grund. Man kann sich auch kritisch und differenziert zum Koran äußern, ohne erst die negativst mögliche Interpretation des Korans zur absoluten „Wahrheit über den Koran“ zu erklären, und ohne betrunkene Grapscher und Terroristen als ganz normale Vollstrecker islamischer Religion darzustellen. Genau dieses Denken im Superlativ durchzieht jedoch auch Ourghis Antisemitismusanalyse in seinem Artikel. Beispiel: Laut Ourghi ist es eine Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Hamas vom 7.10.23, wenn man sagt: „Der Judenhass hat nichts mit dem Islam zu tun.“ Die grundsätzliche Kritik Ourghis an solch simplen Analysen ist freilich berechtigt. Seine Folgerung aber, dass eine eventuell fehlerhafte Analyse gleichbedeutend mit einer Gleichgültigkeit gegenüber Terroropfern sei, ist unhaltbar.

Es ist richtig zu sagen, dass Judenhass zum Islamverständnis der Hamas-Ideologie gehört. Ebenso richtig ist es zu sagen, dass die Hamas die antijüdischen Potenziale in manchen islamischen Texten manipulativ und entgegen dem Sinn zahlreicher anderer und zugleich besser überlieferter Texte aus dem Kontext löst und verabsolutiert. Nach Ourghi ist aber eine solche kontextualisierende Analyse gar nicht möglich ohne die geforderten öffentlichen Schuldbekenntnisse. Aber: Warum muss ich ein Bekenntnis zur Schuld anderer ablegen, die religiöse Texte zweckentfremden, wenn ich diese Texte gar nicht kenne, gar nicht ernst nehme, oder (wie bei mir selbst) es mir gelingt missbrauchsanfällige Texte sachgerecht zu kontextualisieren? Warum sollten Schuldbekenntnisse wichtiger sein als selbst für ein tolerantes Islamverständnis einzustehen, wie viele, auch konservative Muslime es tun? Kein Muslim muss sein differenziertes Islamverständnis mit dem archaischen Verständnis der Hamas auf eine Stufe setzen und zusammen mit diesem verurteilen, wie Ourghi es gerne hätte. Vielmehr sage ich: „Ich lehne das judenfeindliche und archaische Islamverständnis der Hamas ab, und vertrete ein menschenfreundliches Islamverständnis, das frei von Judenhass ist.“ Mehr braucht es nicht. Punkt. Ourghi mag seinen Weg gefunden haben, um sich von seiner eigenen Vergangenheit als indoktrinierter Antisemit glaubhaft distanzieren zu können. Ich respektiere dies. Jedoch waren andere Muslime mit 23 keine indoktrinierten Antisemiten, die sich nun dafür schämen und öffentlich Buße tun müssten. Und selbst für viele von denen, die Antisemiten waren, oder sind, ist der Heilsweg des islamkritischen Predigers zu speziell, zu voraussetzungsreich, zu publikumsorientiert.

Kritikpunkt 3: Problematischer Umgang mit akademischer Islamwissenschaft

Vielleicht könnte man selbst noch mit Ourghis Exklusivismus innerhalb des Reformdiskurses leben, wenn er für seine Thesen zum Islam nicht absolute Gewissheit beanspruchen würde, indem er sie islamwissenschaftlich zu rahmen versucht. Gerade seine im Artikel sehr detaillierte Schilderung der „Schande“ des Propheten im Umgang mit den Juden setzt eine verlässliche historische Rekonstruktion der Ereignisse zu Lebzeiten des Propheten voraus, für die eine philologische, hermeneutische und quellenkritische Arbeit nötig ist – zumindest wenn man sich wie Ourghi als historisch-kritisch arbeitenden Islamwissenschaftler mit Reformansprüchen versteht. Insofern ist der methodische Weg klar gezeichnet. Jedoch begnügt sich Ourghi damit, die in der islamischen Literatur populären Erzählungen zur Prophetenbiografie trotz ihrer seit Jahrhunderten schon umstrittenen Quellenlage selbst in Details wie einen historisch abgesicherten Augenzeugenbericht wiederzugeben. Anhand dessen kritisiert dann Ourghi empört den Propheten und versucht eine empathische Brücke zu den ebenso literalistisch denselben fraglichen Texten entnommenen konkreten jüdischen Opfergruppen aufzubauen. Ourghis Warnung vor dem „Vergessen“ dieser Zusammenhänge  (in Analogie zur Warnung vor einem Vergessen der Schoa) ist absurd: Die Geschichten über den Sieg des Propheten gegen die vertragsbrüchigen jüdischen Stämme kann man auch in der islamisch-religiösen Gegenwartsliteratur überall in epischer Breite nachlesen und daraus nacherzählen. Also genau so wie Ourghi es in seinem Artikel und noch ausführlicher in seinem Buch tut. Das Erstaunliche für mich: Er tut dies ohne Wenn und Aber, ohne den geringsten Anflug einer historisch-kritischen Quellenkritik.

Der Unterschied zu literalistischen Lesarten dieser Texte durch die meisten religiösen Muslime, wie ich sie kenne, ist nun: Letztere kontextualisieren diese teils problematischen Berichte historisch und verallgemeinern sie nicht. Ourghi hingegen fällt mit seinem historisch-kritischen Anspruch bei gleichzeitig naiv-wortwörtlicher Behandlung der Texte hinter den Forschungsstand selbst der späten 90er zurück. Der Münsteraner Islamwissenschaftler Marco Schöller hatte damals in seiner viel beachteten (aber wenig gelesenen) Studie „Exegetisches Denken und Prophetenbiografie“ (Harrassowitz 1998) nachgezeichnet, über welche komplexen Wege die von den Prophetenbiographen ab dem zweiten Jahrhundert des Islam kompilierten Handlungsstränge zum Umgang des Propheten mit den Juden von Medina gegangen waren, bis sie die von Ourghi im Indikativ rezipierte Form annahmen, d. h. einschließlich der populären Berichte über eine Massenexekution der Männer des vertragsbrüchig gewordenen dritten jüdischen Stammes in Medina.

Schöller hat gezeigt, dass vor und parallel zur frühen „arabischen Geschichtsschreibung“, auf der Ourghi seine Kritik am Propheten aufbaut, zu fast allen zentralen Ereignissen im Zusammenhang mit den Juden miteinander konkurrierende Berichte in den verschiedenen Textgattungen der damaligen Gelehrtenliteratur im Umlauf waren. Unter anderem hat Schöller plausibel gemacht, dass der Bericht über die Vertreibung des ersten der drei jüdischen Stämme eine späte Hinzufügung in der Geschichtsschreibung darstellt. Und dass der Konflikt mit dem zweiten und dritten Stamm ursprünglich eine einzige Episode dargestellt haben könnte, die nicht mit einer kollektiven Hinrichtung der Männer eines Stammes enden muss, wie die populäre Fassung zu berichten weiß (Details siehe hier). Eine mögliche Alternative dazu wäre ein Kriegsende, das mit einer mehrheitlichen Vertreibung der beiden Stämme sowie einigen zahlenmäßig geringeren Gefangennahmen und Tötungen – wahrscheinlich von Kämpfern – endet. Dies ist immer noch ein tragisches Szenario, aber weit von einer kollektiven Hinrichtung aller Männer eines gesamten Stammes – als Ersatz für eine Vertreibung – entfernt. Diese Argumentation betrifft auch die von Ourghi als Beleg für die kollektive Hinrichtung herangezogene Koranverse 26-27 aus Sure 33. Diese Passage wäre damit die historisch älteste Quelle, die von diesem Ereignis berichtet. Schöller hat jedoch darauf hingewiesen, dass selbst dieser mutmaßlich authentischste Beleg von mehreren Gelehrten gar nicht auf eine kollektive Hinrichtung im Kontext des dritten jüdischen Stammes bezogen wurde, sondern auf andere Kriegssituationen mit weit weniger Opfern. Damit geht auch die Gewissheit dieses von Ourghi für eine kollektive Hinrichtung herangezogenen Belegs für eine kollektive Hinrichtung verloren. All dies widerlegt die Hinrichtungsthese nicht definitiv, aber zeigt, dass sich auf wissenschaftlicher Basis auch kein historisch gesicherter Beweis mehr dafür finden lässt. Das ist es, womit sich historisch-kritische Wissenschaft befassen muss, wenn sie nicht nur dem Namen nach historisch-kritisch sein möchte.

Entsprechend hat Schöller – im Unterschied zu Autoren wie Ourghi – nie behauptet, dass man aus seinen Studien Gewissheit über die echten historischen Ereignisse ableiten könne. Er hat aber gezeigt, dass die Datenbasis zu den Juden in Medina deutlich widersprüchlicher ist, als es später konstruiert wurde. Dies wiederum sollte als wissenschaftliches Stoppschild für die Narrative eifernder Islamkritiker und radikaler Islamisten verstanden werden. Und es zeigt: Wissenschaft kann dazu beitragen antijüdische Potenziale der islamischen Texttradition – und ebenso Gewaltbereitschaft fördernde Passagen in den Überlieferungen anderer Religionen – fundiert zu hinterfragen und zu entschärfen. Eine Entschärfung wiederum kann sowohl durch immanentes Kontextualisieren, als auch durch eine historisch-kritische Quellenkritik geschehen.

Es gibt daher nicht nur einen Weg zur Erlösung.

Tragisch ist nun zum einen, dass Ourghi all dies nicht im Entferntesten aufgreift, obwohl sein Buch „Der Koran und die Juden“ genau davon handeln müsste, wenn er historisch-kritisch im vollen Wortsinn arbeiten wollte. Aber vielleicht will er dies ja auch gar nicht. Denn dies wäre nicht mit seinen islamkritischen Textgewissheiten, von denen sein Ansatz lebt, zu vereinbaren. So schreibt er auch zu den quellenkritischen Studien renommierter Islamwissenschaftler zum Text des sogenannten „Paktes von Umar“, einem Dokument, das stark diskriminierende Regelungen für nicht muslimischen Minderheiten beinhaltet: „Wer die Echtheit des Dokuments und seinen Wirkmacht bezweifelt, der hilft bei der Durchsetzung des Bildes vom ‘glücklichen Juden‘ unter muslimischer Herrschaft“ (Der Koran und die Juden, S. 199). Diese Aussage ist – gelinde gesprochen – kein sehr überzeugendes Argument gegen wissenschaftliche Quellenkritik. Vielmehr bedeutet es: Damit von bestimmten Islamkritikern das Böse weiterhin als die Essenz des traditionellen Islamverständnisses ausgegeben werden kann, sollte auch Islamwissenschaft „islamkritisch“ statt historisch-kritisch betrieben werden.

Aber fast noch tragischer als dieser krude Instrumentalismus scheint mir, dass er in seinem Buch ein einziges Mal die oben genannte Studie Schöllers in einer Fußnote zitiert, und zwar um einen Beleg für die Vertreibung des ersten jüdischen Stammes in Medina anzugeben – also genau zu jenem Ereignis aus der traditionellen Prophetenbiografie, dessen Historizität Schöller im zitierten Werk am klarsten in Frage gestellt hatte. Es bleibt ein Rätsel, wie man den Sinn eines zitierten Buches derart umkehren kann.

Epilog: Zustimmung zu Ourghi in drei Punkten

Nach diesen drei zentralen Einwänden von mir möchte ich mich abschließend jedoch Ourghis Artikel auch anschließen, und zwar in weiteren drei Punkten.

Erstens: Es ist es auch aus meiner Sicht (um mit Ourghi zu sprechen) eine Schande, dass er aufgrund seines neuen Buches bedroht wird, sodass er sich um die Sicherheit seiner Familie sorgen muss. Absolut niemand hat ein Recht jemanden wegen seiner Meinungen oder Aussagen zu bedrohen. Wenn jemand Kritik an Ourghi und anderen islamkritischen Autoren üben möchte, dann soll er den Weg des Arguments wählen, oder schweigen.

Zweitens: Ich bin wie Ourghi der Meinung, dass die zeitgenössische islamische Gelehrsamkeit zu wichtigen Teilen in der Tat sehr leichtfertig mit den antijüdischen Potenzialen aus bestimmten Teilen der islamischen Text- und Rechtstradition umgeht. Es sollte deren Aufgabe sein den potenziellen und teils auch realen Missbrauch dieser Texte als solchen anzuerkennen und einen engagierteren Beitrag als bisher dazu zu leisten dieses Potenzial unter Kontrolle zu halten. Hierzu sind quellenkritische Ansätze, wie ich sie bevorzuge, hilfreich. Aber sie sind nicht die einzige Option. Schon mit der traditionellen islamischen Hermeneutik sind weitreichende Kontextualisierungen und Textkritik möglich, die bislang nur teilweise ausgereizt wurden.

Und drittens: Ich möchte mich dem für mich wichtigsten Satz aus Ourghis Artikel anschließen, der den inhaltlichen Schwerpunkt der Kritik am gegenwärtigen Diskurs zum Thema Nahost auf alle Seiten ausmachen sollte, und der – allen voran von Autoren wie Ourghi selbst – mehr beherzigt werden muss. Er lautet:

„Ist es wirklich so schwer, das Leid der Palästinenser und das Leid der Juden gleichermaßen anzuerkennen?“

Wenn wir alle irgendwann diesen Satz gemeinsam aus vollem Herzen verneinen können, d. h. wenn uns eines Tages muslimisches und jüdisches Leiden gleichermaßen bewegt, dann erst ist der wichtigste Schritt zum Frieden getan.