Imam Isaac Newton

Nichts ahnend lese ich Isaac Newtons „Principia Mathematica Philosophiae Naturalis“ aus dem Jahre 1687 (Übers. aus dem Lateinischen v. Volkmar Schüller) um die historisch bahnbrechende Physik und Mathematik des Jahrtausendgenies in ihrer Genese zu verstehen. Was mit einer Suche nach seiner Herleitung des Gravitationsgesetzes beginnt, endet für mich mit einer atemberaubenden Lektüre der Theologie des Isaac Newton, die er als „Scholium Generale“ in einer Ausgabe der Principia als Ergänzung in Buch 3 publiziert hat (ich kommentiere den Text auszugsweise mal später).

Irgendwann denke ich mir, an meinem Çay nippend:

„Maşallah, der große christliche Physiker Newton betrieb bis eben noch Himmelsmechanik, und theologisiert nun urplötzlich wie ein islamischer Philosoph oder gar Kalām-Theologe“.

Dass Newton der arianischen Christologie nahestand, wusste ich. Von daher überrascht mich sein abstrakteres Gottesbild nicht. Aber dieses Kapitel liest sich für mich schon weit darüber hinaus wie „meine“ Theologie.

Ich finde das atemberaubend: Newton beschreibt inmitten seiner großen Principia, einem der wichtigsten Werke der Geschichte der Physik überhaupt, eine Theologie, mit der ich mich über große Strecken über alle Jahrhunderte und Religionsgrenzen hinweg fast schon identifizieren kann.

Wissenschaft und (auch theologisches) Philosophieren sind universell.

Zeitlose Gedanken überleben Jahrhunderte.

Und die Physik verbindet einfach alles und jeden miteinander – mal auf die eine, mal auf die andere Weise.

Für die einen ist er: Sir Isaac Newton.

Für mich aber heute Abend: Imam Isaac Newton.

Schnell, noch ein Çay.

Dann lese ich:

„Der Begriff Gott weist ohne Unterschied auf einen Herrn hin, aber nicht jeder Herr ist ein Gott. Die Herrschaft eines geistigen Wesens konstituiert einen Gott, eine wahre einen wahren, eine höchste einen höchsten, eine vorgestellte einen vorgestellten.“

In diesem Abschnitt ist nun eine Anmerkung zum hier für Gott verwendeten lateinischen Begriff „deus“ (Gott). Newton schreibt darin:

„Unser Landmann Pococke leitet das Wort deus von dem Arabischen Wort ‚du‘ (Genitiv ‚di‘) ab, welches einen Herrn bezeichnet.“

(Lateinisch: Pocockus noster vocem dei deducit a voce Arabica du, (& in casu obliquo di,) quæ dominum significat – Quelle: https://www.thelatinlibrary.com/newton.scholium.html )

Hä? Arabisch? Du? Di? Ich dachte immer „deus“ kommt aus dem griechischen „theos“? Grübel, grübel…

Das kann nur das Wörtchen „ḏū“ bzw. der Genitiv „ḏī“ sein, wie es im Koran mehrfach in der Bedeutung „Besitzer von…“ vorkommt: „ḏū l-qarnayn“ = Besitzer zweier Hörner, oder im Kontext Gottes: „dhū l-faḍl al-ʿaẓīm“ = Besitzer hoher Güte, und als Genitiv in der Tat „dhī l-maʿāriǧ“ = Besitzer der Aufstiegswege.

Für Newton unterscheidet sich Gott von einem ersten abstrakten metaphysischen Prinzip (z. B. ewigen Ideen) also darin, dass er als „deus“ nicht nur Ursache, sondern auch Besitzer der bzw. Herrscher über der Welt ist. Seine Anbetungswürdigkeit leitet Newton nun daraus ab, dass die Herrschaft Gottes eine absolute und wahre ist.

Und um diesen Gedankengang zu starten, greift er auf eine Etymologie von „deus“ zurück, die nicht auf die Griechen, sondern auf die Araber verweist.

Wow!

Sein Gewährsmann ist dabei Pococke.

Aber who the f* is Pococke?

Denn kennt sicher keine Sau mehr, dachte ich mir.

Von wegen. Es handelt sich hierbei um Eduard Pococke, ein ausgewiesener Arabist seiner Zeit, der in Oxford lehrte, während Newton in Cambridge tätig war. Pococke leistete wichtige Beiträge zum Veständnis und zur Verbreitung von Wissen über arabische Philosophie, sowohl islamischer, als auch jüdischer Prägung, die wiederum über Jahrhunderte sehr eng mit islamischer Philosophie verwandt war. Man denke nur an den Andalusier Moses Maimonides, oder die intensive jüdische bzw. hebräische Rezeption des Ibn Rušd alias Averroes in Europa.

Ja, und siehe da, während ich bis vor zwei Stunden noch dachte, Pococke kennt niemand, habe ich nicht nur die obigen Infos zu ihm gefunden, sondern – wie auch sonst oft – mal wieder eine vorzügliche Bibliografie von Serdar Aslan zu Pococke, die schnell plausibel macht, dass er nicht umsonst in einem Physik-Werk Newtons zitiert wird, wenn es um arabische Sprache und indirekt auch um Philosophie oder Theologie geht. (hier: https://islam-akademie.de/index.php/bibliographie-terminologie/59-autoren-1651-1750/448-edward-pococke-1604-1691-bibliographie )

Unter den europäischen Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts waren also mögliche Bezüge der europäischen Tradition zur arabischen Sprache und Kultur bekannt.

Und es ist nicht ausgeschlossen, dass der Christ Newton, womöglich wieder vermittelt über den britischen Arabisten Pococke, auch tiefe Einblicke in die arabischsprachige Philosophie und Theologie besaß und er manchem davon inhaltlich nahestand. Zumindest ist dies ein Eindruck, den man bei der Lektüre aus seiner Theologie gewinnen kann. Ich bin gespannt, ob ich auch dazu etwas finde…

So, und jetzt zum nächsten Çay…

Auszug aus der Übersetzung der Principia von Volkmar Schüller mit dem Hinweis auf Pococke und dem mutmaßlich arabischen Ursprung von „deus“

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