Kolumne „Ein Spruch“ (3): Hört auf zu schießen!

Die israelische Tageszeitung Haaretz stellt fest, dass infolge der harten Kriegsführung Israels gegen die Hamas 17.000 Kinder im Gaza-Streifen gestorben sind. 17.000 tote Kinder – und zahllose traumatisierte, verwaiste und verstümmelte Seelen. Die Menschlichkeit sagt: Jeder von ihnen ist weder mehr noch weniger wichtig und wertvoll, als der in der Geiselhaft der Hamas gestorbene kleine Israeli Kfir Bibas.

Am Gipfel der Macht Netanyahus und des expansionistischen und militaristischen Flügels der Zionisten wird die Welt zugleich zum Zeugen des Verblassens des Mythos vom Bollwerk der „westlichen Zivilisation“ gegen „Barbaren“, des Mythos von der „einzigen Demokratie in Nahost“.

Israel hat sich nicht nur von den messianischen und rassistischen Extremisten aus seinem eigenen Herzen, sondern auch von einigen immer noch imperialistisch denkenden Adern im westlichen Diskurs verführen lassen, für die Israel die richtige instrumentelle Struktur am richtigen Ort ist.

Darum zählen die 17.000 Kinder in deren Gleichung nichts.

Man streitet höchstens noch um die Exaktheit und Objektivität der genauen Zahl der getöteten Kinder.

Erbärmlich.

Theodor Herzl würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, wie der Mainstream-Zionismus sich mittlerweile darauf verständigt zu haben scheint seine praktischen Probleme durch Barbarisierung oder religiös-nationalistische Radikalisierung zu lösen.

Und: Menschenrechte, Kinderrechte, Völkerrecht…

Zusammen mit den weit über zehntausend Kindern von Gaza ist auch die internationale Glaubwürdigkeit der genannten Konzepte in großen Teilen der Welt zu Grabe getragen worden.

Keiner weiß, wie wir sie wiedergewinnen werden.

Obwohl wir alle sie heute und auch morgen mehr denn je brauchen und brauchen werden.

Der jetzige Zustand bleibt für immer auch die Bankrotterklärung der Hamas und aller Widerstandstheoretiker, die 7/10 zur normalen Folge des Nahostkonflikts verklärt haben.

Sie haben den Palästinensern einen Bärendienst erwiesen und sie dann vor Ort alleine gelassen.

Dies ist auch eine moralische Bankrotterklärung der muslimischen Staaten, Gesellschaften und der Muslime im Westen, auch bei uns hierzulande.

Es wäre deren Aufgabe gewesen den Kindern von Gaza dieses Schicksal zu ersparen.

Keinen Krieg oder Terror zuzulassen, deren Hauptverlierer nur diese Kinder sein können.

Für einen narzisstischen Traum haben einige von euch letztlich diese Kinder geopfert.

Ohne den geringsten Schimmer des Triumphes, den ihr seit so langem schon versprecht, wohlwissend, dass euch viele glauben, auch wenn ihr wisst, dass dies nur der emotionalen Betäubung dient.

Bei uns in Deutschland gilt: Diese Kinder hatten verteidigende muslimische Stimmen und Strukturen verdient – und zwar solche, die sich über Jahrzehnte Achtung in Gesellschaft und Politik erarbeitet haben.

Also Strukturen und Stimmen, auf die man hört, auf die man hören will und sollte, wenn man weiterhin glaubwürdig bleiben will.

Wir sind weiter denn je davon entfernt Instanzen zu sein, deren Wort da draußen irgendetwas zählt.

Das wäre aber ohnehin nicht die Aufgabe von Individuen, sondern von organisierten Strukturen gewesen – seien es muslimische Organisationen hier, oder muslimische Staaten, die seit Jahrzehnten eine Europaanbindung haben bzw. haben könnten oder sogar müssten.

Nein, unser Wort, unsere Gefühle, unsere Tränen – sie zählen alle nichts in einer Welt, die nicht nur uns ausgrenzt, sondern von der wir uns auch selbst systematisch ausgegrenzt haben.

Wir haben versagt diesen Kindern, und den vielen hunderttausenden weiterhin Leidenden dieses Leid zu ersparen.

Wo trotz unserer immensen Masse – anscheinend unsere einzige systemrelevante „Stärke“ – offensichtlich keine einzige belastbare muslimische Struktur existiert, die eine friedliche Lösung hätte erzwingen können – auch schon lange vor 7/10 – sind letztlich alle von uns einzeln mitverantwortlich für dieses in symbolischer Hinsicht größte politische Fiasko der islamischen Gegenwart.

Die hierzu nötige Selbstkritik ist komplex und noch immer in weiter Ferner.

Es ist außer Stockstarre und nachvollziehbarem Trotz leider nicht einmal der Anflug einer von der muslimischen Community getragenen Selbstkritik, die nach vorne weist, erkennbar.

Weil es uns leichter fällt alle Aufmerksamkeit auf jene zu lenken, die diese Kinder faktisch getötet haben:

das israelische Militär, deutsche und amerikanische Waffen…

Jede Kritik an diesen ist berechtigt, man sollte hier nicht mit Kritik geizen.

Doch was ist mit unseren eigenen Hausaufgaben?

Mit den letzten Jahren sind mehrere ideologische Narrative aus bestimmten muslimischen Kreisen seit dem zweiten Weltkrieg wohl endgültig zu Grabe getragen worden:

Es wird keine Rettung der Palästinenser durch irgendeine muslimische Intervention geben.

Auch der gefürchtete Iran der Mullahs hat sich nun als schwächelnder Einzelgänger erwiesen, für den im Notfall niemand bereit ist einzustehen.

Israel wird nicht gehen, sondern bleiben – mächtiger denn je.

Nicht nur dank Trump, sondern auch dank Hamas und Konsorten.

Die Muslime haben nicht die richtigen, sondern die falschen Konsequenzen aus den veränderten Machtverhältnissen der Moderne gezogen.

Und viele bestehen immer noch auf diesen falschen Konsequenzen.

Es gibt schon seit langem faktisch keine Alternative zu Frieden mit Israel, wenn die Palästinenser je wieder ein menschenwürdiges Leben ohne weitere Vertreibung führen sollen.

Warum also das Herumgedruckse?

Die islamischen Staaten denken ebenso egoistisch wie die gegen sie kämpfenden radikalen Gruppen.

Dies zu erkennen, war eine der wenigen „Bildungsanlässe“ der Nachrichten aus der islamischen Welt der letzten Zeit.

Die Hamas hat darin versagt jene Menschen in Gaza auch nur im Geringsten zu schützen, die sie selbst mit 7/10 einer beispiellosen Zerstörung und Verwüstung ausgesetzt haben.

Mehr noch: Sie hatten nie vor in diesem Krieg diese Menschen zu schützen.

Und ja: Es haben sich Wissenschaft, Technologie und politische Allianzen durchgesetzt gegen universelle Menschenrechte, Völkerrecht und Moral.

Und es haben sich ebenso Wissenschaft, Technologie und politische Allianzen durchgesetzt gegen islamistische Überlegenheitsrhetorik, antiisraelische Da’wa und Dschihad-Parolen und das Charisma religiöser Autoritäten, die dachten, sie gewinnen eines Tages irgendwas, wenn sie ihren Leuten glauben machen, dass an allem Übel Israel oder die Juden schuld sind.

Begrabt diese Märchen endlich.

Und wacht auf.

Das Seyyit Qutb-Paradigma ist gestorben.

Wenn es je „unseren Kampf gegen die Juden“ (so heißt ein Text von ihm) im Sinne Qutbs gab, dann wurde genau dieser Kampf aktuell und dauerhaft verloren.

Genauer gesagt, hätte es einen solchen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ in den Köpfen der Ideologen nie geben dürfen, da sie damit Generationen infiziert und damit blind für jegliches eigenes Versagen gemacht haben.

Und genau sie haben uns weltweit den Ruf besessener Antisemiten eingefahren, sodass wir gefühlt immer die letzten sind, die von den Mächtigen nach ihrer Meinung zum Nahostkonflikt gefragt werden.

Genau so sieht politisches Totalversagen aus.

Die eigentliche Quittung kam aber erst jetzt.

Ein einziger israelischer Nationalismus hat es mit allen Nationalismen und sonstigen Ismen um sich herum aufgenommen.

Ja, es hatte und hat Rückendeckung durch einen ungerechten Freund im Westen.

Aber Israel hat vor allem Willenskraft und einen unglaublichen Realitätssinn bewiesen.

Selbst während sie intern zerrissener denn je sind, stehen sie nach außen als Einheit da – ein Zustand, von dem muslimische Gesellschaften seit langem nur träumen können.

Was Israel und seine bedingungslosen Parteigänger offensichtlich jedoch nicht mehr haben, ist die Fähigkeit empathische Beziehungen zu irgendjemandem aufzubauen, der keine bedingungslose Loyalität verspricht.

Auch das ist das Ergebnis einer langen Entwicklung.

Und es führt dazu, dass sich viele Israeli dem Gedanken, dass es unschuldige Zivilisten in Gaza geben könnte, schlichtweg verweigern.

Das ist nicht nur moralisch furchtbar.

Zugleich ist genau das der Fehler, wegen dessen die militärischen Erfolge Israels seinen Bürgern langfristig nicht die ersehnte Normalität bringen können, sondern Angst und Unwohlgefühl nur auf ein höheres und breiteres Podest stellen.

Hier sollten echte Freunde Israels ansetzen.

Und nicht beim Befeuern von Kriegswut.

Oder denkt ihr, die Taten des israelischen Militärs und die furchtbaren Bilder werden aus den Köpfen der Menschen oder auch nur aus dem Internet in absehbarer Zeit verschwinden?

Dafür ist es zu spät.

Was tun?

Im Moment ist wirklich nur eines zu tun:

Hört!

Auf!

Zu!

Schießen!

Völlig egal, wie ihr das organisiert oder intern begründet.

Denn ihr wisst auch Aufzuhören mit dem Schießen.

Ihr habt aller Welt bewiesen, dass ihr als die zahlenmäßig Unterlegenen in Nahost in der Praxis die Stärkeren seid.

Das ist nicht das erste Mal, aber dieses Mal fällt dieser Beweis länger und qualvoller für die andere Seite aus.

Das muss reichen.

Vergesst nie:

Menschen hassen ihre Unterdrücker.

Sie hassen sie vor allem dann, wenn sie oder ihre Liebsten durch sie ihr „summum malum“, also das höchste Übel, also einen gewaltsamen Tod erleben müssen.

Sie hinterfragen dann auch nicht mehr, wer aus den eigenen Reihen die Lawine mit ausgelöst hat.

Das ist menschlich.

Wie absurd es vom deutschen Fernsehsessel aus auch aussehen mag.

Es ist ganz einfach: Man schaut immer auf den, der aktuell am brutalsten zu einem ist.

Solange ihr die Stärkeren und aufgrund ungleicher Möglichkeiten und verblendeter Politiker auch die Brutaleren seid, kaufen euch Andere nicht ab, dass ihr euch im Gazastreifen und im Westjordanland nur verteidigt.

Diese Unmöglichkeit ist schlichtweg der Fluch eures eigenen Erfolges.

Oder anders gesagt: Je mehr Macht und je dickere Freunde man offensichtlich hat, umso mehr Verantwortung schreibt man einem zu.

Das sind elementare Gesetzmäßigkeiten einer Welt, die ihr nicht ändern könnt.

Daher: Nutzt eure immense Stärke nicht.

Und verzichtet am besten ganz auf alle Erklärungen, Begründungen, Ausreden für die Militärgewalt Israels.

Sie nützen nichts beim argumentativen Gegenüber, ja machen es nur fassungsloser.

Denn bis auf eine fanatisierte Minderheit weiß oder ahnt jeder, dass es andere, bessere Wege zur Lösung eurer Probleme als diesen Krieg gibt.

Wenn ihr euren Kindern nicht ein Land hinterlassen wollt, das aufgrund der Bilder aus dem Gaza-Streifen auch in vielen nächsten Generationen von allen Nachbarn Israels ebenso gefürchtet wie gehasst wird, dann beendet den ideologisch-militärischen Irrsinn jetzt.

Noch vor jeder ethnischen Säuberung, die viele israelische Politiker und Bürger regelmäßig fordern.

Es reicht.

Wenn ihr schon nicht auf uns hört, dann hört auf die Vernünftigen in Israel und unter Israels Freunden.

Von deren Zeitung Haaretz habe ich den Link aus dem Anfang dieser Kolumne.

Ich verneige mich vor Haaretz – und wünsche mir für jedes Land, insbesondere für jedes muslimische Land, eine so unerbittlich selbstkritische Zeitung wie Haaretz, die aber zugleich ihr Heimatland nicht verrät.

Die Vernünftigen Israelis können euch viel besser als ich erklären, warum der eingeschlagene Weg ein falscher Weg ohne Happy End für irgendjemanden ist.

Und: Diese vernünftigen Israeli sind vielleicht die letzte noch nutzbare Brücke zwischen euch und dem Gros der Muslime.

Darum geht bitte gut mit diesen euren Leuten und ihren Medien um.

Ihr braucht sie und ihre Weitsicht mehr, als es euch vielleicht scheint.

Ein effektiver Sieg ist noch nicht ein ehrenhafter Sieg und schon gar nicht per se weise.

Die jetzige Kampfeslust bestimmter Kreise in Israel ist emotional nachvollziehbar.

Und doch erscheint sie mir nicht ehrenhaft.

Zu viele Unschuldige sind dafür gestorben und sterben weiterhin täglich.

Um die Hamas habe ich rein gar nichts zu beweinen.

Aber die zahllosen, namenlosen Unschuldigen.

Diese Kinder, sie rauben mir und vielen regelmäßig den Schlaf.

Sie sollten vielleicht auch euch den Schlaf rauben, wie groß auch Schmerz und Wut nach 7/10 und die Demütigung durch eine anhaltende unmenschliche Geiselnahme immer noch bei euch sind.

Lasst es zu, dass die Kinder von Gaza auch euch den Schlaf rauben.

Dergleichen zuzulassen ist nicht Schwäche, sondern Stärke.