Kolumne „Ein Spruch“ (2): Wie man sich erfolgreich muslimische Antisemiten heranzieht

„Wir müssen Antisemitismus in allen Formen bekämpfen“ – die Republik diskutiert seit dem Hamas-Anschlag am 7. Oktober 2023 auf Israel darüber, was gegen das Phänomen des Antisemitismus in Deutschland, vor allem auch aus muslimischen Kontexten, getan werden sollte. Auch ich schreibe und rede darüber. Aber wenn es still wird und ich den Tag Revue passieren lasse, nagen seit Jahren schon Zweifel an meiner Großhirnrinde: Meinen „die anderen“ wirklich immer dasselbe wie ich, wenn sie über Antisemitismus bei Muslimen reden? Diese Zweifel rühren nicht aus dem nichts. Erstens machen sie sich an den Wortgebilden fest, die „die anderen“ bei der Beschreibung des Phänomens verwenden. Und zweitens hadere ich mit den verbreiteten Methoden zur Bekämpfung des Problems, deren strategische Tiefe oft gefühlt irgendwo zwischen „Thermomix-Rezepte für Küchenanfänger“ und „Polizei rufen“ liegt.

Aber wie geht man dann meiner Meinung nach „richtig“ mit offenem oder latentem Antisemitismus aus muslimischen Kontexten um? Da ich in Medien, Politik und Bildung viel öfters zu beobachten meine, wie man es falsch statt richtig macht, möchte ich in dieser Kolumne den umgekehrten Weg einschlagen, also Abschreckung vermitteln anhand konkreter Negativ-Beispiele: Ich möchte darstellen, wie man als Vertreter der deutschen Öffentlichkeit nach meiner Erfahrung mit jungen und alten, und mit mehr oder weniger religiösen Muslimen verfahren muss, um selbst aus den entspanntesten muslimischen Zeitgenossen, Menschen mit gewissen Vorbehalten gegenüber Jüdinnen und Juden, aber insbesondere gegenüber Israel zu machen, oder ihnen gar ein Quentchen Antisemitismus zu entlocken.

Dieser vielleicht polemisch wirkende, aber konstruktiv gemeinte Ansatz dieses Textes hat einen weiteren Hintergrund: Die besagten aus meiner Sicht problematischen Stimmen scheinen sich nicht von Hinweisen auf die dringende Situation und Bedürfnisse von Musliminnen und Muslimen beeindrucken zu lassen. Wenn man bedenkt, dass es über zwanzigmal mehr Menschen muslimischen als jüdischen Glaubens in Deutschland gibt, die auch vielfältig von Diskriminierung geplagt sind, dass aber die besagten Stimmen sich bei ihren regelmäßigen Äußerungen zum Nahostkonflikt sowie zu Themen wie dem jüdisch-muslimischen Verhältnis in Deutschland fast nur um jüdische Bürgerinnen und Bürger sowie um Israel zu sorgen scheinen, während ihnen die Palästinenser und Muslime egal bis lästig zu sein wirken, dann muss dies früher oder später zur emotionalen Desintegration vieler Muslime in Deutschland führen. Und genau dies beobachte ich voller Sorge. Denn viele Muslime hören Folgendes aus den starken Stimmen in Politik und Medien heraus: Ihr mit euren muslimischen Palästinensern gehört nicht zu uns. Aber die Juden und die Israeli schon. Und es wird auch in der Bildungsarbeit immer schwieriger diesem Eindruck des Ausgegrenztwerdens etwas entgegenzuhalten.

Dagegen möchte ich mit diesem Text ein bisschen protestieren.

Um das Ziel meines Textes nun auch etwas polemischer zu umschreiben: Wenn „ihr“ (also die oben besagten Stimmen) euch schon kaum für das emotionale Wohl und Zugehörigkeitsgefühl der Muslime in Deutschland interessiert, dann bedenkt wenigstens, dass ihr Wohl und Beachtetwerden auch der Situation der Jüdinnen und Juden zugutekommen würde. Denn eure Worte und Ansätze zum Nahostkonflikt eignen sich oft eher zur Stärkung von muslimischen Vorbehalten gegenüber Juden und vor allem Israel (davon handelt dieser Text), sodass ein dummer Zuschauer manchmal den Eindruck kriegen könnte, dass genau dies euer Ziel ist.

Natürlich ist es dies nicht.

Aber gut gemeint ist nicht immer gut.

Und man kann manchmal sehr erfolgreich genau das Gegenteil der eigentlichen Absicht erreichen.

Darum werde ich hier den dummen Zuschauer sprechen lassen.

Ich habe dazu unten das „erfolgreiche“ Verstärken von muslimischen Vorbehalten gegenüber Juden und Israel durch eine unreflektierte Fürsorgeverteilung der Öffentlichkeit plus pauschalem Antisemitismusverdacht gegenüber Muslimen als „(unbeabsichtigtes) Ziel erreicht“ bezeichnet.

Das „Du“ im Folgenden meint keine bestimmte Person, sondern stellt einen groben Mittelwert aus vielen sich wiederholenden Beobachtungen im antisemitismuskritischen Diskurs unterschiedlichster Kontexte in Deutschland dar, die ich für verbesserungswürdig halte.

Also, höre, o Volk:

Wenn du folgende fünf Schritte konsequent befolgst (für mehr reicht mein Platz nicht), dann erreichst du bei Muslimen und muslimisch gelesenen Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann eine signifikante Zunahme von Vorbehalten gegenüber Jüdinnen und Juden, gegenüber dem Judentum und erst recht gegenüber dem Staat Israel.

Aus welchen Studien ich das habe?

Aus gar keiner vorerst.

Das Folgende speist sich aus zahllosen Gesprächen von mir mit unterschiedlichsten Muslimeinnen und Muslimen über das Thema meiner heutigen Kolumne.

(Bitte seht mir den Spott in den kommenden Beispielen nach. Er rührt von meinen eigenen Ohnmachtsgefühlen ob der schiefen Diskurslage.)

Erstens: Erkläre das „Die-Kinder-von-Gaza“-Argument zur fiesen Täter-Opfer-Umkehr

Sehr viele muslimisch geprägte Menschen sehen praktisch täglich in türkisch- oder arabischsprachigen Medien aus verschiedensten Quellen grausame Bilder getöteter, verwaister, verstümmelter oder ausgehungerter Kinder im Gaza-Streifen. Die Zahl dieser Kinder umfasst mittlerweile weit über 10.000 (in Worten: zehntausend. Verdaue mal diese Größenordnung). Für die allermeisten Musliminnen und Muslime machen nicht der für sie längst verschwommene 7. Oktober 2023, oder die Auswirkung des Krieges auf die Hamas, sondern die zivilen Folgen der bis heute andauernden Militärgewalt Israels im Gaza-Streifen die eigentliche Realität dieses Krieges aus. Darum, wenn du muslimische Vorbehalte gegenüber Juden und Israel stärken willst, gehe so vor (Hinweis: jetzt beginnt der spottende Ton):

Lasse nicht zu, dass die Situation der Kinder in Gaza in öffentlichen Diskussionen das Gespräch dominiert, denn gegen diese Bilder, deren tägliche Menge und Wucht vieles Vorstellbare in den Schatten stellt, ist jedes verbale Argument machtlos. Allgemeine Regel: Halte stets den Gedanken an die unbestreitbar furchtbaren Ereignisse des 7. Oktober wach, aber unterdrücke die seitdem bis heute fast täglich folgenden schrecklichen Bilder aus Gaza, ja schaue sie dir auch selbst nicht an. Denn sie könnten dich massiv irritieren oder gar beeinflussen.

(Einen ersten Eindruck vom Horror in Gaza kann man anhand der Links in der 1400 Fußnoten umfassenden Studie des israelischen Historikers Lee Mordechai gewinnen. Diese umfasst unter anderem auch viele inhumane und triumphalistische Postings und Videos von Grausamkeiten, die von israelischen Soldaten in Gaza aufgenommen und auf Social Media verbreitet wurden, sowie die begeisterten Reaktionen antipalästinensischer Rassisten darauf. All dies reicht um Nationalismus, Rassismus, Krieg und speziell diesen Krieg zu verachten. Ich hatte schlaflose Nächte. Und diese Studie umfasst noch nicht einmal die vom Aushungern Gazas geprägte Phase nach der Waffenruhe. Bitte nicht anschauen, hier: https://witnessing-the-gaza-war.com/wp-content/uploads/2025/03/Gaza_English-v6.6.0-9.3.25.pdf )  

Und wenn die Bilder doch in Umlauf geraten: Dann erkläre diese Bilder pauschal zu fieser Hamas-Propaganda. Oder rahme sie allgemeiner als inszenierte „Pallywood“-Produktionen von Menschen, die dank Israels Hilfslieferungen eigentlich mehrheitlich gut ernährt und gesund sind, aber undankbar reagieren. Da gewiss ein paar Inszenierungen dabei sind, sollte dir die Verallgemeinerung des Inszenierungsverdachts auf alle Bilder (natürlich in integrer Absicht) nicht schwerfallen. Und überhaut: Was sind die Palästinenser nur für ein barbarisches Volk, dass sie ihre leidenden Kinder beim Sterben filmen, statt ihnen zu helfen indem sie die Hamas-Terroristen stürzen! Stattdessen verbreiten sie solche Bilder – wie zynisch von ihnen!

Wenn auch diese Argumentation nicht greift: Erinnere daran, dass man heute mit KI alles Mögliche an Bildern, ja sogar Videos erzeugen kann, sodass man keinen Videos und Bildern, die nicht von israelischer Seite bestätigt sind, glauben sollte. Und wenn auch dieses Argument nicht ankommt: Sage ihnen, während sie die herzzerreißenden Bilder von bewusstlosen Kindern neben ihren abgerissenen blutigen Gliedmaßen sehen, und zu den Geschichten dazu aus Verzweiflung weinen, dass Israel NICHT DIE GERINGSTE VERANTWORTUNG für diese Folgen ihrer Bombardierungen trägt, und dass die Palästinenser wegen „ihres“ 7. Oktobers selbst schuld an dem Leid ihrer Kinder sind, und dass Israels Armee – entgegen aller gegenteiliger Behauptungen – mehr als jede andere Armee dieser Welt alles Menschenmögliche tut um keinen Zivilsten zu schaden. Deswegen starben ja zum Glück nur um einige zehntausende und nicht ein paar hunderttausende Zivilisten. Und überhaupt hatte die israelische Regierung gar keine andere Wahl als diesen Krieg genau so zu führen, da sonst die Hamas-Milizen früher oder später ganz Israel vernichten würden. Und frage sie, statt auf die Bilder aus Gaza zu reagieren: „Warum postest du nicht auch Bilder vom 7.10.23?“ Doppelstandard enttarnt, Problem gelöst!

Gehe in keinem Wort darauf ein, dass neben sehr vielen internationalen Stimmen auch die Familien der israelischen Geiseln und viele besonnene jüdische Stimmen auch aus Israel gegen eine Fortführung des expansionistischen Krieges sind. Sonst könnte dies als Eingeständnis gewertet werden, dass die Regierung Netanjahu, wenn das Ziel nur die Erhöhung der Sicherheit Israels ist, eventuell doch eine andere Wahl bei der Bekämpfung der Hamas als diesen zerstörerischen Krieg, als die Traumatisierung von Millionen von Palästinensern, oder als eine vollständige ethnische Säuberung in Gaza hat, wie Israels Politiker in diesen Wochen immer wieder aussprechen (was natürlich nicht im Entferntesten mit einem Genozid vergleichbar wäre, nicht im Entferntesten…).

Versuche in jedem Fall zu zeigen, dass die gezielte Bilder-Propaganda eine üble Täter-Opfer-Umkehr darstellt. Und das Wichtigste: Warte, bis jemand bei seiner Empörung über das israelische Militär aus Versehen irgendwas in die Richtung von „Kindermördern“ sagt. Das ist der entscheidende Moment. Enttarne damit die ganze „Kinder-von-Gaza“-Opferdarstellung als das, was sie in deiner Welt höchstens sein kann: eine hasserfüllte Reproduktion antisemitischer Narrative, früher erzählt durch antisemitische Europäer, heute durch antisemitische Muslime. Dann redet bald hoffentlich niemand mehr zu prominent über angeblich am 7. Oktober unbeteiligte oder gar Unschuldige in Gaza, ohne Angst vor Antisemitismusvorwürfen zu bekommen.

Wenn dir all das, oder zumindest einiges davon gelingt, dann kannst du sicher sein, dass dein muslimisches Gegenüber so schockiert über deine stolze Ignoranz gegenüber palästinensischem Leid sein wird, dass es sich als Reaktion auf deine Verschließung gegenüber dem Leid der Palästinenser auch gegenüber dem Leid und den Ängsten von Israelis und Jüdinnen und Juden verschließen könnte. Ziel erreicht.

Zweitens: Dämonisiere die Palästinenser samt ihren Kindern als Kollektiv

Sprich über die Palästinenser in von Israel blockierten, besetzten und bombardierten Gebieten stets so, als wären sie ein radikal-islamistisches Kollektiv stets gewaltbereiter Hamas-Terroristen, deren Traum alleine die Vernichtung Israels und allen jüdischen Lebens ist. Du darfst hierfür auch selektiv aus Studien, die inmitten der Trümmer und Toten in Gaza entstanden sind, zitieren, ohne tiefer in diese Studien eindringen zu müssen. Dein Ziel: Es darf gefühlt keine „unbeteiligten Zivilisten“ in Gaza geben, die nicht mitschuldig am 7. Oktober bzw. unschuldig sein könnten. Behaupte, dass die Palästinenser für das Leidenlassen von Juden bereit sind das Leben ihres geliebten Nachwuchses, ihr mühsam errichtetes Heim, ja ihr ganzes Leben zu opfern. Sie lieben nicht, sondern sie hassen. Oder anders: Sie lieben eben den Hass. Dafür sind sie sogar bereit zu sterben, statt zu leben. Das können daher nur Monster sein, nicht? Es muss alles so aussehen, als ob eine direkte Linie vom dritten Reich zum Gaza-Streifen führt – und dass daher der Gaza-Streifen im Grunde so behandelt werden darf wie Dresden im 2. Weltkrieg behandelt wurde (ich lese das oft – als ob die damalige Behandlung Dresdens moralisch unproblematisch gewesen wäre… o mein Gott…). Die palästinensische Flagge, die Kufiya, einfach alle palästinensischen Symbole: Die sind alle so etwas wie das Hakenkreuz der Nazis. Mit diesem Zynismus und dieser Pauschalität erreichst beim muslimischen Gegenüber eine maximale Solidarisierung mit den Palästinensern, die auf Kosten der Bereitschaft zur Empathie mit Israelis gehen kann. Ziel erreicht.

Drittens: Sage immer rechtzeitig „Ja, aber die Hamas…“

Wann immer Anzeichen von möglichen Kriegsverbrechen der israelischen Regierung oder des israelischen Militärs, oder von antipalästinensischem Rassismus in relevanten Teilen der israelischen Gesellschaft aufkommen, dann beginne einen Satz mit „Ja, aber die Hamas…“ (Dasselbe gilt für Versuche eine genaue Anzahl an Opfern im Gaza-Streifen zu nennen – wenn du naiverweise die von der Hamas behaupteten Ziffern verwendest, dann giltst du manchem gewitzten Zeitgenossen als sofort in allen Punkten zum Nahostkonflikt als widerlegt). Mit dieser rhetorischen Waffe erschwerst du dem Ahmet-Normal-Muslim das offene Aussprechen von Kritik an Israel, da die wenigsten einen sozialen Tod durch den Anschein einer Solidarität mit der Hamas erwecken wollen.

Aber das Wichtigste: Durch den inflationären Gebrauch des Hamas-Arguments bei allen Themen, in denen die Palästinenser als möglicherweise bisschen im Recht dastehen könnten, erreichst du ab einem gewissen Punkt, dass dein muslimisches Gegenüber die Hamas gar nicht mehr als relevanten und echten Teil des Problems wahrnimmt (je nach Vorkenntnissen des Gegenübers), da der Hamas-Faktor rhetorisch von dir absolut überstrapaziert wird und offensichtlich von anderen Dingen, die ähnlich hässlich wie die Taten der Hamas sind, ablenken soll. Natürlich ist ein solches einseitiges Verstehen auf muslimischer Seite problematisch. Nur: Ein solches einseitiges Verstehen bei dir ist genauso problematisch. Aber: Damit kommst du immerhin deinem Ziel (Hinweis der Regie für Quereinsteiger im Text: Ironie goes on) muslimisch geprägten Antisemitismus wahrscheinlicher zu machen in großen Schritten näher.

Viertens: Verhalte dich so, als ob es eine jüdische Weltverschwörung gibt, die alles einschließlich dir kontrolliert

In vielen muslimischen Ländern kursieren seit dem 19. Jahrhundert aus Europa importierte antisemitische Verschwörungstheorien, die kurz gesprochen besagen, dass eine Handvoll Juden die ganze Welt zu kontrollieren versucht und jeden aus dem Weg räumt, der ein Problem mit ihrem angeblichen Traum einer Herrschaft Großisraels über alle Völker der Welt hat (Muslime hatten vor der Moderne auch einige Vorbehalte gegenüber dem Judentum, die aber nicht vergleichbar sind mit den monströsen Weltverschwörungstheorien aus Europa und Russland und mit deren Folgen).

Das ist nun deine Chance um im Denkmantel des Einsatzes für Israel muslimischen Antisemitismus anzufachen: Verhalte dich stets so, als ob es wirklich eine unsichtbare Hand gibt (es ist eigentlich deine eigene Undifferenziertheit), die dir in der Öffentlichkeit allzu klare Kritik an Israels Politik untersagt. Und streue zwischen deinen Zeilen diffuse Zeichen, dass diese Hand irgendwie die Hand der Juden (o.ä.) sein könnte (du machst das offiziell ja nur für „die“).

Sage einerseits: „Natürlich ist Kritik an Israel und Netanjahu legitim“, aber äußere niemals selbst eine solche Kritik zu ausführlich oder ohne sofortiges „Ja aber“, damit Muslime denken, du hast Angst eine solche Kritik gründlich zu formulieren (die Juden sollen ja so allmächtig wie möglich aussehen). Und bevor andere eine solche Kritik versuchen: Formuliere so schwierig zu erreichende Kriterien für die Antisemitismus-Ferne einer solchen erlaubten Kritik, dass sich letztlich doch niemand mehr traut öffentlich so freiheraus über Israel zu schimpfen, wie andere beispielsweise über die Türkei oder Erdoğan schimpfen, weil das Feld offensichtlich so vermint ist, dass man schon im zweiten Schritt sozial, man könnte sagen: abzukacken droht (vor allem, wenn man als Muslim die Geschichte und die Narrative des europäischen Antisemitismus nicht kennt, weil man in der Schule Jahre lang bescheuerterweise dachte, diese Themen beträfen nur „echte Deutsche“).

Du weißt natürlich, dass das alles Quatsch ist: Es gibt etliche öffentliche Kritik an Israel (wenn auch selten an der prominentesten Stelle in Politik und Medien). Aber das ist egal: Wichtig ist nur, dass du bei möglichst vielen Muslimen durch deine verkrampfte Aura und deine theatralische Empörtheit stets den Eindruck aufrecht hältst, dass öffentliche Kritik an Israel durch den sozialen – vielleicht sogar beruflichen – Tod geahndet werden kann. Und das aller wichtigste: Setze genügend implizite Zeichen, dass nicht deine eigene Dramatisierung (oder – Gott bewahre – eine Beimischung von etwas Dummheit), sondern „die Juden“ solche harten Maßstäbe definieren und sie scheinbar auch durchsetzen – und dass sie auch über dich eine unendliche Macht besitzen, die Muslimen erst recht große Angst machen muss. Ziel erreicht.

Fünftens: Setze Israels Politik mit Zionismus, und Kritik am Zionismus mit Antisemitismus gleich

Aus Sicht vieler Musliminnen und Muslime ist Zionismus genau das, was gerade Israel im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland tut, sowie das, was rechtsextremistische und religiös-fundamentalistische Israeli über dieses Vorgehen sagen. Dies ist freilich eine unfaire Definition von Zionismus. Denn es gab und gibt viele Zionisten, die für Israel, aber gegen eine autoritäre und gewaltvolle Palästinenserpolitik waren und sind. Man könnte diese Vielfalt nutzen um zumindest hier bei uns in Deutschland pauschale Vorurteile gegen Israel und den Zionismus abzubauen, ja vielleicht sogar darin eine Form des Nationalismus zu erkennen, die ähnliche vielfältig und ähnlich problematisch ist wie der Nationalismus vieler andere Völker, einschließlich des türkischen und deutschen Volkes.

Um genau diese entspannende Differenzierung zu verunmöglichen, musst du in deiner Ignoranz nun verhindern, dass zwischen „guten“ und „schlechten“ Zionismusformen bzw. liberaleren und autoritäreren Zionismusformen (wie er aktuell leider felsenfestes Regierungsprogramm in Israel ist) differenziert wird. Berichte also nie davon, dass selbst Theodor Herzl als einer der einflussreichen Theoretiker des modernen Zionismus einen friedlichen jüdischen Staat mit einem politisch neutralen Jerusalem haben wollte – einen Staat, der nicht durch Militär und (als solche dargestellter) Religion dominiert ist. Berichte auch nicht davon, dass Herzl wollte, dass das jüdische Volk durch diesen Staat zu einem ganz normalen Volk unter Völkern werden sollte (du kennst gewiss Herzls Buch „Der Judenstaat“ – richtig?), also ohne imperiale Sonderprogramme wie den sich aktuell ausweitenden Raubsiedlungsbau, oder die immer lauter artikulierte hässliche Absicht der ethnischen Säuberung in Gaza – dies sind Dinge und Methoden, die Herzl meiner Meinung nach kategorisch verurteilt hätte. Jedoch haben sich nach vielen Phasen der Entwicklung im Zionismus, an denen anfangs vor allem die Briten und dann die Araber und schließlich die Amerikaner ihren indirekten Anteil haben, die nationalistisch-religiösen Hardliner durchgesetzt. Darum heißen heute die Parteien der extremistischsten Kräfte in der Regierung Netanjahu heute auch „Religiöser Zionismus“ und „Jüdische Kraft“, und nicht etwa „Die Rechtsextremen“ oder „Alternative für Israel“.

Das ist Instrumentalisierung von Religion.

Solches muss problematisiert werden (nicht nur punktuell), um Israel auf der argumentativen Ebene glaubhaft auch ohne dogmatische Autoritätsargumente weiterhin verteidigen zu können, gerade angesichts muslimischer Vorbehalte und berechtigter Kritiken.

Eben diese Adaptivität und Befähigung zur Problemlösung nannte sich ursprünglich mal „Bildung“.

Auch antisemitismuskritische Bildungsarbeit sollte sich dieser Herausforderung stellen, wie sehr es auch manchen bisherigen Gewohnheiten zuwiderzulaufen scheint. Denn sonst ist sie schlichtweg nicht mehr zeitgemäß, was ihren Zielen massiv zuwiderlaufen würde.

Zurück zur Vielfalt im Zionismus: Umso wichtiger wäre es daher gerade heute zu differenzieren und auf die vielen freiheitlichen und nicht rassistischen Zionisten bzw. weniger ideologisch formuliert: auf Jüdinnen und Juden mit positivem Verhältnis zu Israel zu verweisen, die einen Kontrast zur aktuellen und bisher extremsten Regierung Israels darstellen. Einige Beispiele: Die Soldatenmutter Elana Kaminka, der Historiker Louis Fischmann, die geniale wie für alle Völker vorbildliche Tageszeitung Haaretz etc.

(Ich bin freilich nicht dagegen, dass Deutschland in einem besonderen positiven Dialog mit dem Staat Israel steht. Dies gehört zur Geschichte und Identität Deutschlands, ohne jeden Zweifel.)

Da dein Ziel ja aber allem Anschein nach lautet muslimische Vorbehalte gegenüber Israel zu stärken, musst du jetzt auch stark sein und darfst dich auf gar keinen Fall auf solche Differenzierungen einlassen. Impliziere durch deine paternalistische Rhetorik: Es gibt nur einen Zionismus! Und der bindet alle echten Juden! Nachdem du dieses Dogma behauptet hast, musst du nun noch warten, bis ein Muslim sagt: „Ja zu den Juden, nein zu den Zionisten [im eingangs genannten Hardcore-Sinn]“ Statt ihm nun zu helfen dieses Konzept auszudifferenzieren, musst du ihm nun sagen, dass diese Aussage  antisemitisch ist – obwohl ausgerechnet die (auch in Deutschland kritisch beäugten) Extremisten in der Knesset sich als die größten Zionisten ausgeben, und natürlich Ablehnung verdienen. Mit deinem undifferenzierten Verhalten jedoch kannst du sicherstellen, dass es dem Muslim immer schwerer fallen wird eine Empathie mit Menschen aufzubauen, die sich Israel sehr verbunden fühlen, und mit Juden, die den Zionismus nicht ablehnen. Ziel erreicht.

Fazit: Es sieht nicht sehr gut aus, zumindest nicht im Moment

Ich habe noch viel mehr solcher „Tipps“ bzw. Exempel für destruktiv wirksames Gutmeinen auf Lager, aber ich muss diese viel zu lang geratene Kolumne jetzt wirklich abbrechen, bevor sich die Leute wieder lustig machen über die Länge meiner „wirklich kurzen“ Kolumnen.

(Vielleicht kommt mal ein „Teil 2“ dieser Kolumne raus. Oder dasselbe Format zum ebenso spannenden komplementären Thema: „Fünf Tipps, wie man es als Muslim im Handumdrehen schafft in der deutschen Öffentlichkeit als Hardcore-Antisemit dazustehen“)

Hoffentlich ist es mir etwas gelungen zu zeigen, wie leicht es in der Atmosphäre seit dem 7. Oktober ist sich einerseits gegen Antisemitismus in allen Formen einsetzen zu wollen, aber dabei gerade bei Musliminnen und Muslimen durch eine absolut nicht adressatengerechte Vorgehensweise das Ziel zu verfehlen, oder gar das Gegenteil zu verstärken. Dass der relevante Diskurs mit Muslimen hierzu schon kurz nach dem 7. Oktober tot war, entbindet niemanden davon erneut nach Wegen zur Eröffnung dieses Diskurses zu suchen, die nicht nur Teilen der deutschen Gesellschaft das Gefühl von „gutem Gewissen“ durch klare Parteinahme für Israel oder allgemein für die Jüdinnen und Juden vermitteln sollte, sondern die wirklich Antisemitismus in allen Formen, also auch bei Muslimen, in ihren diskursiven Ursachen adressiert und hier glaubhafte Argumente und Perspektiven entgegenzusetzen vermag.

Daher:

Nein zu rein demagogischer „Antisemitismuskritik“! (siehe obige Beispiele)

Ja zu konstitutiver Antisemitismuskritik!

Dies geht jedoch nicht, wenn man die betroffene Gruppe – in diesem Fall vor allem die religionsverbundenen unter den Muslimen – systematisch aus Diskursen über Antisemitismus muslimischer Prägung ausschließt bzw. bevorzugt pauschalisierende Islamkritiker mit muslimischem Migrationshintergrund darüber öffentlich sprechen lässt (was alles nochmals um einiges schlimmer macht…), während andererseits Musliminnen ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen über den Kopf wachsen, aber sie keine offenes Ohr für ihre Anliegen finden.

Dies ist ein Holzweg.

Bitte ändert das endlich mal.

Das in der deutschen Öffentlichkeit verbreitete Vorgehen, das ich in diesem Text exemplarisch und durchaus zugespitzt dargestellt habe, tut nicht nur Jüdinnen und Juden in Deutschland durch Fehlrepräsentation ihrer Anliegen nach Sicherheit und Normalität Unrecht, sondern gerade auch den mehrfach in die Ecke gedrängten Musliminnen und Muslimen, die sich viele Menschen eben doch am ehesten als Täter bzw. als Antisemiten vorstellen und sie dies auch regelmäßig spüren lassen, nicht erkennend, was sie ihnen damit antun.

Wir haben uns noch lange nicht alles zu Sagende gesagt, um gemeinsam über die gegenwärtige und uns alle irgendwie erdrückende Atmosphäre hinauszukommen.

Es ist jetzt an der Zeit.

Go for it!

(Bildquelle: https://www.haaretz.com/opinion/editorial/2025-05-07/ty-article-opinion/we-must-not-avert-our-eyes-from-images-of-dead-children-in-gaza)