Das ethische Ei: Mein Acht-Schichten-Modell zur ethischen Reflexion im Islam

Ich präsentiere nun eine aktuellen Text von mir, der 2023 in einer Publikation an der Katholischen Universität Eichstätt erschienen ist, und nun 2024 als Open-Access-Dokument in einer Publikation an der Uni Tübingen (hier, S. 55-78):

„Das ethische Ei. Ein Acht-Schichten-Modell zur ethischen Reflexion im Islam“.

Dabei handelt es sich um die „Ver-Artikelisierung“ eines Skriptkapitels meiner Fachdidaktik-Veranstaltung für angehende islamische Religionslehrkräfte im gymnasialen Referendariat. Der Artikel ist so aufgebaut:

1. Einleitung
2. Einstieg in das „ethische Ei“
3. Die Dogmatik-Hälfte des ethischen Eies
3.1 Metaethik
3.1.1 Das Wesen des moralisch Guten und Verwerflichen (nach Ash’ari und Maturidi)
3.1.2 Der letzte Zweck des ethisch guten Handelns (nach Ghazali)
3.2 Ethische Theorien und Prinzipien sowie moralische Normen am Beispiel von vier Diskurssträngen islamischer Ethik
3.2.1 Der direkte Koran-und-Hadith-Strang
3.2.2 Der islamrechtliche Strang
3.2.3 Der rationalistische Kalam-Strang am Beispiel Maturidis
3.2.4 Der Strang der Tugendethik bzw. der Lehre vom guten Charakter (ilm al-achlaq)
4. Abriss zur Pragmatik-Hälfte des ethischen Eies
5. Fazit

Meine Fragestellung lautete: Wie lässt sich die sehr komplexe islamische Ethik bzw. Morallehre so sortieren und aufbereiten, dass einerseits ihre Anbindung an islamische Konzepte (Plural) sichtbar bleibt, und gleichzeitig eine konzeptioneller Vergleich mit Problemstellungen und nicht islamischen ethischen Konzeptionen im Hier und Jetzt möglich wird. Wichtig war, dass dies kein rein theoretisches, sondern ein praxisbezogenes, d. h. für Unterrichtsplanung mit ethischer Tiefenschärfe fruchtbares Modell werde. Und: Es sollte dabei helfen das große Begriffs- und Konzeptwirrwarr zu beseitigen bzw. zu reduzieren, wenn auf Deutsch über islamische Ethik gesprochen wird.

(Beispiele für die Folgen willkürlicher Begriffssetzungen und konzeptioneller Unklarheiten: „Der Prophet war kein ethisches, sondern ein religiöses Vorbild“ – „Die Quellen der islamischen Ethik sind Aristoteles und Platon“ – „Der Islam hat keine Ethik“ – „Der Islam ist gar nicht Recht, sondern Ethik“ etc.)

Ich glaube, dieses Problem ist lösbar, wenn ich selbst auch nur eine erste Skizze dazu entwickelt habe. Meine Skizze heißt: Das ethische Ei. (Didaktiker arbeiten gerne mit anschaulichen und reduzierenden Modellen.) Im Grunde habe ich dabei das Thema „islamische Ethik“ einfach nur aus der Perspektive analytischer islamischer Theologie, der ich mich methodisch zugehörig fühle, analysiert. Ich finde es als Startpunk bislang gut, da es in seiner oberen „Dogmatik-Hälfte“ von der islamischen Metaethik, über islamische ethische Theorien, Prinzipien und Normen den theologisch-deduktiven Teil, und in der unteren „Pragmatik-Hälfte“ die praxisrelevanten Ebenen von praktizierter islamischer Ethik bzw. Normenlehre von der Situationsanalyse über die Entscheidungsabwägung und den Handlungsvollzug selbst bis zur Konfrontation mit den Auswirkungen der Handlung befasst. Das meiste davon habe ich noch nicht kompakt verschriftlicht, hat aber jetzt schon das Potenzial zu einem umfangreichen Buch. Für den Anfang muss der kurze Artikel genügen.

Allgemeine Darstellung des ethischen Eies (eigene Grafik).

Das ethische Ei verfolgt die Vision das Phänomen der Ethik im Islam (als Theorie und Praxis) in seiner Gesamtheit zu kartografieren. Im Moment liegt nun ein erster Versuch mit eher geringer Ausdifferenzierung vor. Ich habe einen islamrechtlichen, einen rationalistischen, einen tugendethischen und einen unmittelbaren „Koran und Sunna“-Strang als vier wichtige Theorien eingebaut. Dies ist als erster Startpunkt für das weitere zu verstehen, das noch folgen muss, da diese Traditionslinien in Wirklichkeit ganze Bündel von Traditionen darstellen. Auch kann man sicher darüber streiten, wie gut die Traditionen überhaupt miteinander vergleichbar sind, oder überhaupt irgendetwas Neues im Vergleich zu Koran und Hadith beinhalten können, was nicht schon in den Primärquellen zu finden wäre. Ich denke, dass dies sehr anspruchsvolle Fragen sind, die nicht in einem Satz zu beantworten sind. Aber irgendwo muss man nun mal anfangen. Am besten deskriptiv, d. h. gewissenhaft beobachtend und beschreibend. Das ethische Ei beantwortet keine moralischen oder ethische Fragen, sondern hilft dabei aufgeräumt, strukturiert und systematisch über diese Fragen nachzudenken bzw. die innerislamischen Diskurse unter einem bewusst eng gehaltenen Schwerpunkt herum (nämlich Sozialethik) einzusortieren, ohne ihren tieferen Gehalt auszublenden.

Die acht horizontalen Schichten des Eies, die je nach Aufgabenstellung deduktiv oder induktiv gelesen werden können, werden von vier Spalten gekreuzt, in die ich in der Dogmatik-Hälfte die vier oben genannten (und aus meiner Sicht wichtigsten) ethischen Traditionslinien des Islams aufgenommen habe. In der Pragmatik-Hälfte, die reale Situationsbewältigungen beschreibt, gibt es ebenfalls vier Spalten. Davon beinhaltet eine die in der Dogmatik hergeleitete religiös-normativen Substanz, während die anderen drei den vielfältigen Situationsparametern gewidmet sind. Wer sich für das Modell interessiert bzw. es studieren, anwenden und weiterentwickeln (oder auch kritisieren möchte), der kann es sich nun kostenfrei im Internet (hier, S. 55-78) herunterladen.

Detailliertere Skizze des ethischen Eies mit exemplarischen Konkretisierungen (eigene Grafik)

Zu einer wissenschaftlichen Publikation wurde mein Skriptkapitel, nachdem ich auf Einladung des Philosophie-Fachdidaktikers Prof. Torkler auf einer Fachtagung des Forums für Didaktik der Philosophie und Ethik 2021 mein islamisch-theologisches bzw. religionspädagogisches Ethik-Modell vorgestellt hatte. Das Thema dieser Tagung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt lautete: „Wie hast du’s mit den Religionen? Religion und Bildung im Ethik- und Philosophieunterricht.“ Meine Rolle auf der interdisziplinären Tagung war es einen Einblick ist das Thema „Ethik und Religion“ aus der Perspektive islamischer Fachdidaktik vorzustellen. Erschienen ist die Erstfassung darauf in: René Torkler / Markus Tiedemann (Hg.): „Wie hast du es mit den Religionen?“ Religion und Bildung im Ethik- und Philosophieunterricht. Dresden/München 2023, S. 49-70.

Als zweites ist der Artikel nun in leicht überarbeiteter Form erschienen im interdisziplinären Tagungsband der „Tübingen School of Education“ an der Universität Tübingen mit dem Titel:

„Quellen des Sinns. Fragen von Religiosität, Spiritualität und Ethik in Bildung und Unterricht“.

Auf der Tagung, die im Oktober 2022 an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät stattfand, wurden u. a. bildungstheoretische Perspektiven auf eine positive Pädagogik diskutiert, die sich nicht auf Macht- und Diskurskritik beschränkt, sondern auch transzendente „Quellen des Sinns“ in einem zeitgenössischen Bildungsverständnis denkbar macht. Ausgerichtet wurde die Tagung von Uta Müller, Martin Harant, Dominik Balg und Simon Meisch. Neben mehreren philosophischen und bildungstheoretischen Ansätzen wurden dort auch Zugänge aus den Fachdidaktiken von Fächern wie Altgriechisch, sowie der Religionslehren vorgestellt und engagiert diskutiert. Ich hatte auch hier die Ehre (m)eine Perspektive speziell auf den ethischen Diskurs in der islamischen Tradition vorzustellen. Ein Ergebnis ist nun, dass mein Artikel im Rahmen einer u. a. vom Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl herausgegebenen Schriftreihe der Uni Tübingen als kostenlos abrufbares Open-Access-Dokument erschienen ist, was mich sehr freut und ehrt.