Ich habe in meine Textesammlung auf andalusian.de einen aktuellen Text von mir zur „Einführung in die analytische Koranhermeneutik“ eingestellt, in dem ich aufzeige, wie man mithilfe eines analytischen Zugangs zum Korantext viele heute kontrovers diskutierte Themen des Korans auf ein vernünftiges und zeitgemäßes Fundament stellen kann ohne in Beliebigkeiten zu verfallen und ohne einzelne Wortlaute zu verabsolutieren. Ich habe dies exemplarisch anhand der Verse
(a) zu Krieg und Frieden,
(b) zur mutmaßlichen Hierarchie zwischen Mann und Frau sowie
(c) zum Verhältnis zu Juden und Christen
vorgeführt. Auch gehe ich eingangs auf die oft übergangene, aber für alle religionspädagogischen und sozialwissenschaftlichen Überlegungen zur Lebenswelt der Muslime sehr wichtige Unterscheidung zwischen Fragen der Islam-Dogmatik und Islam-Pragmatik ein.
Eine zentrale These in meinem Text lautet, dass die grundsätzliche analytische Herangehensweise an den Koran, die heute aufgrund des Drucks von traditionalistischer, reformistischer und islamskeptischer Seite oft sträflich vernachlässigt wird, fest in der islamischen Tradition verankert ist – und dass die mannigfaltigen Herausforderungen durch die Moderne, von Menschenrechten bis zur modernen Naturwissenschaft, hier ein gezieltes „Ausgraben“, Aktualisieren und Neuanwenden erfordern. Je mehr Köpfe sich an dieser Art von Forschungsarbeit und Diskussion beteiligen, umso besser!
Dieser Text kann gleichzeitig als Zusammenfassung meines über Jahre entwickelten Zugangs zum (kognitiven) Verständnis des Korans gelesen werden, den ich künftig ausführlicher darstellen und als Teil einer analytischen islamischen Theologie verstanden wissen möchte. In dieser ist Koranhermeneutik „nur“ eine Teildisziplin. Und auch, wenn ich mich hier aus mehreren Gründen auf den Koran konzentriere: Dieses Vorgehen lässt sich mit einigen Zusätzen auch auf Hadithe und andere Textgattungen der islamischen Tradition übertragen.
Die in meinem Text betrachteten Methoden der Spezifizierung (taḫṣīṣ) und der Herausarbeitung von Bedingungen (taʿlīl) bzw. „Konditionalisierung“ können als analytische Methoden einer kontexualisierenden Koranhermeneutik verstanden werden, die versucht nahe am Korantext zu bleiben und dabei vor allem für die zahlreichen praxis- und rechtsbezogenen Kontroversen der Gegenwart hilfreich ist. Die meisten Muslime argumentieren heute übrigens ähnlich, aber selten vor dem Hintergrund eines theoretischen Rahmens. Ich wiederum brauche die Theorie, da ich sonst meine eigenen Argumente nicht wirklich verstehen würde.
Dieser Ansatz eignet sich nach meiner Erfahrung gut für Diskussionen um Flexibilität in der islamischen Normenlehre. Aber er schürft zunächst sehr tief im „Problem“ um erst einmal die Sachstruktur in allen Facetten sichtbar zu machen, statt auf die Schnelle Einzelaussagen einer pauschalen Neuinterpretation zu unterziehen oder pauschal zu historisieren. Auch vermeidet er ein frühzeitiges Ausweichen auf Interpretationen aus der islamischen Tradition, noch ehe der reichhaltige Korantext voll ausgeschöpft ist. Dieses tiefe Schürfen im Korantext macht den hier beworbenen Zugang wiederum uninteressant, wenn man ein Thema einfach mal schnell abarbeiten, potenziell unangenehmere Aspekte daran gar nicht erst sehen oder einfach nur die „einzig richtig“ Interpretation eines Koranverses ohne lange Herleitung erfahren möchte.
Die abschließend im Text erwähnte und an anderer Stelle noch ausführlicher dargestellte metaphorische Deutung (taʾwīl) wiederum ist seit Anbeginn des Islams ein wichtiger Weg um Scheinkonflikte mit empirischer Naturwissenschaft zu entschärfen. Der taʾwīl hat nicht nur viele islamische Theologen, Philosophen und Wissenschaftler über Jahrhunderte beschäftigt und polarisiert. Auch in der christlichen Welt findet sich beispielsweise beim italienischen Naturforscher Galileo Galilei in seinem Brief von 1613 an D. Benedetto Castelli ein deutliches Statement zum „taʾwīl“ aus einer christlich-rationalistischen Perspektive, der noch nicht historisch-kritisch im engeren Sinne ist, aber dennoch den Konfliktbereich zwischen Bibelauslegung und Naturwissenschaft erheblich verringert. Ich finde, dass sich auch heute noch eine Auseinandersetzung mit diesen an sich schon sehr alten Konzepten lohnt. Sie lassen sich auch heute noch fruchtbar machen.
Mein auf meiner Website nunmehr leicht überarbeiteter Beitrag ist erstmals erschienen im Sammelband „Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht.“, herausgegeben von Lamya Kaddor (München 2020), In der Tat ermöglicht mein – an sich eher konservativer – Zugang zum Korantext eine differenziertere und dabei in der Konsequenz oft auch freiheitlichere Perspektive zu zahlreichen Themen des Korans. Ich persönlich bin überzeugt davon, dass diese Möglichkeit in der Struktur des Korantextes verankert ist, aber erst durch ein analytisches Vorgehen wirklich erschlossen werden kann. Mein Zugang definiert sich allein schon deswegen nicht als „liberal“, sondern eben als: analytisch.