Uğur, das bedeutet auf Türkisch Glück. Und Özlem bedeutet Sehnsucht. Beides sind Namen, denen ich seit einiger Zeit oft in den Medien begegne. Dies ist Uğur Şahin und Özlem Türeci zu verdanken, einem außerordentlichen Ehepaar, das durch einen bahnbrechenden Erfolg bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen COVID-19 berühmt geworden ist.
Sehnsucht ist das Gefühl, das die ersten Gastarbeiter in Deutschland begleitete. Sehnsucht nach finanzieller Absicherung ihrer Familien. Sehnsucht nach Rückkehr in ihre Heimat. Ich kann mich erinnern, wie mein Vater mir als Kind jedes Jahr ankündigte, dass wir bald in die Türkei zurückkehren würden. Jahrzehnte sind vergangen, wir sind alle hier geblieben.
Aus ihrer unerfüllten Rückkehr wurde Sehnsucht nach Glück für ihre Kinder. Dass ihre Kinder, wenn sie schon in Deutschland bleiben, eines Tages erfolgreiche und angesehene Menschen werden, auf die ihre Eltern stolz sein können. Vielen Gastarbeiterkindern meiner Generation wünschten ihre Eltern, dass sie Richter oder Ärzte werden. Dass sie große Entdeckungen machen, dass sie eines Tages ein Gegenmittel gegen Krankheiten wie Krebs entdecken, mit dem sie der ganzen Menschheit helfen. Solches wünschten sie uns – während die meisten von uns froh waren, wenn sie einen passablen Schulabschluss schafften. Welch gut gemeinte Zumutung!
Und nun betitelt eine deutsche Wochenzeitschrift in ihrem Online-Auftritt ein Interview mit Özlem Türeci und Uğur Şahin mit den Worten “Ihre Entwicklung wird Millionen Menschenleben retten“. Und die Bundeskanzlerin verkündet öffentlich ihren Stolz auf die beiden. Dies sind befreiende Momente für sehr viele Menschen. Nicht nur wegen Corona.
In einer Zeit, in der türkische und ähnliche Hintergründe in der Öffentlichkeit oft negativ besetzt sind, ist es richtig die türkische Herkunft des Paares nicht zu unterschlagen. Zumal die beiden ihren Hintergrund nicht abstreiten, sondern sich dessen bewusst zeigen, dass sie damit andere inspirieren können.
Und das, wozu die beiden, die mit Menschen aus 60 Nationen zusammenarbeiten, inspirieren, ist weit von Polarisierungen entfernt. Konkret stehen Türeci und Şahin für Jahrzehnte währende zielstrebige Wissenschaft, für unternehmerische Professionalität und für analytischen Vorausblick. Sie stehen für eine kluge Kanalisierung von Kapital für Mensch und Gesundheit, für unbekümmerte Coolness gegenüber Statussymbolen und für eine Scheu vor vergeudeter Zeit.
Wer die Literatur kennt, weiß: All dies gehört zu jenem Kanon an Tugenden, der auch in muslimisch geprägten Gesellschaften seit Beginn der Moderne als Ausweg aus gesellschaftlichen Krisen angepriesen wird. Das Angepriesene ist den beiden Türkischstämmigen unter deutschen Verhältnissen nun fast in Reinform gelungen. Sehnsucht und Glück haben einen Bann gebrochen.
(Mein Beitrag für „Islam in Deutschland“ (SWR aktuell) am 8.1.21; Audio; Manuskript)