Kolumne „Ein Spruch“ (1): Friedrich Pascha, möchten Sie auch mein Bundeskanzler sein?

Lieber Herr Merz, wie haben wir gestern alle mit Ihnen gebangt. Doch nun können wir Ihnen und uns allen alles Gute für Ihre Amtszeit als neuer deutscher Bundeskanzler wünschen! Und ach, da zwickt auch schon eine Erinnerung in mir… Das muss ich jetzt einfach loswerden, in Teil 1 meiner neuen Kolumne „Ein Spruch“, bei der Sie heute mein Gast sind.

Bei Markus Lanz war es, da sprachen Sie mal so vielen Menschen in Deutschland aus der Seele, als Sie über die Situation an Grundschulen sagten:

„Und dann wollen sie [die Lehrkräfte] diese Kinder zur Ordnung rufen und die Folge ist, dass die Väter in den Schulen erscheinen und sich das verbitten. Insbesondere, wenn es sich um Lehrerinnen handelt, dass sie ihre Söhne, die kleinen ‚Paschas‘, da mal etwas zurechtweisen. Da fängt es an. […] Dann sind es in der Schule die Achtjährigen und da draußen auf der Straße in wenigen Jahren die 15-jährigen.“ (11.1.23)

Ja, das zwickt… und zwar vor allem an zwei Stellen.

Erstens: Negativ stigmatisierende Verallgemeinerung milieuspezifischer Probleme

Sie haben Recht, dass es an manchen (!) Schulen mit manchen (!) Schülerinnen und Schülern und ihren Familien, die einen muslimischen Hintergrund haben, Probleme gibt. Ich selbst habe als Pädagoge mehrere solcher Fälle mit begleitet. Sie haben aber Unrecht in der ungehemmten Pa(u)schalität und dem damit verbundenen Ton, mit der Sie dies kommunizieren. Richtig wäre es gewesen zu betonen, dass die überwiegende Mehrheit muslimisch geprägter Schülerinnen und Schüler und ihre Familien nie mit derartigem „Pascha“-Verhalten auffallen, ja dass im Gegenteil die meisten muslimischen Familien darum bangen, dass ihre Kinder nie mit auch nur dem geringsten Fehlverhalten auffallen (bis das pubertäre Testosteron ihnen eventuell einen Strich durch die Rechnung macht – zum Glück nicht nur bei Muslimen). Dann könnten wir direkt ohne Umschweife über diejenigen, die Probleme machen, reden. Aber hier haben wir plötzlich noch ein bedrohlich anmutendes Pauschalisierungsproblem, wenn auch nicht in der Absicht, dann zumindest im Ton.

Es hilft da auch nicht Ihre doch irgendwie pauschalisierende Aussage mit dem Hinweis zu verteidigen, dass dies „an Grundschulen“ doch an der Tagesordnung sei. Denn an den meisten Schulen und Klassen – zumindest sagen das meine vielfachen persönlichen Recherchen und nicht nur meine – kommt solch gravierendes Fehlverhalten selten bis nie vor. Mein Eindruck: Sie sind eventuell ungewollt auf einen Diskurs aufgesprungen, in dem Muslime als kollektiver Fremdkörper in Deutschland gelten, über den man nicht genug schimpfen kann. Es sind die Vertreter dieses Diskurses, denen Sie aus der Seele sprachen. Denn nichts ist in deren Diskurs naheliegender, als „unsere“ (d. h. der Muslime) unbeliebtesten „Vertreter“ zum repräsentativen „Pars pro Toto“ (man möchte fast sagen: Pascha pro Toto) hoch zu adeln.

Die Lösung lautet natürlich nicht „verschweigen“ (es wird seit Jahrzehnten darüber debattiert), sondern: wissenschaftlich fundiert und lösungsorientiert argumentieren. Die Soziologie hilft hier weiter. Sie hat so zentrale Konzepte wie „soziale Milieus“ eingeführt. Wahr ist nun (bitte alle mitschreiben): Es gibt sehr viele und gegensätzliche soziale Milieus unter den Muslimen in Deutschland – genauso wie unter der nichtmuslimischen Mehrheit. In den prekären Milieus der Muslime findet man die von ihnen beschriebenen Muster. Sie lassen sich sozial und milieuspezifisch wesentlich präziser analysieren als durch verallgemeinernde Kulturalisierung ohne erkennbare Grenze.

Ja, diese Problemfälle stellen eine Minderheit dar, was mehr ist als zusammenhangslose Einzelfälle, aber eben doch eine Minderheit – aber leider keine Minderheit in der Wahrnehmung im medialen Diskurs. Aufgabe von Bildung wäre es nun all diese Zusammenhänge plausibel darzustellen. Aber dazu kommen wir irgendwie nicht. Die Homogenisierung von Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitiger Negativstigmatisierung ist nicht nur populistisch – sie ist auch bildungsfern, gar bildungswidrig. Und glauben Sie mir: Weniges beunruhigt das Gros auch der religiösen muslimischen Familien in Deutschland, die immer noch an Aufstieg und soziale Akzeptanz durch Bildung glauben, mehr als die Angst, dass ihre Kinder irgendwann genau so werden könnten, wie der Typus, den Sie als „kleine Paschas“ beschrieben haben. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

Zweitens: Stigmatisierung muslimischer Identität durch die Wortwahl „kleine Paschas“

Manche Türkischstämmige liebkosen ihre Kleinen manchmal mit „paşam“, was so viel wie „mein Pascha“ bzw. „mein Padischah“ bedeutet. Padischah ist ein im 13. Jahrhundert bei den Türken erstmals verzeichneter Herrschertitel und wurde später zu einem Titel für hochrangige Staatsbeamte, vom Bildungssystem bis in das Militär hinein. Manche türkischen Kreise verbinden den Titel „Pascha“ auch direkt mit dem großen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, etwa im Ausdruck „Gazi Pascha“ (in etwa: Der Herr Kriegsveteran). In jedem Fall transportiert die Assoziierung von „Pascha“ und „Kind“ hier zunächst einmal die Liebe eines Elternteils zum Kind, so im Sonne von „mein Prinz“, und ist weit verbreitet.

Gleichzeitig wird Pascha von Türken auch in pejorativer Bedeutung verwendet. Hier bedeutet dies: jemand verhält sich in unpassenden Kontexten wie ein Pascha. Oder: Es lässt sich bedienen und verwöhnen, als wäre er ein Pascha. Hier geht es um Paschatümelei an der falschen Stelle.

Nun haben Sie die schlechtest mögliche Verwendung des Begriffs Pascha direkt mit dem Fehlverhalten offensichtlich muslimisch gelabelter Kinder in Verbindung gebracht. Damit tragen Sie ungewollt nicht nur zum Feindbild „muslimische Kinder/Jugendliche“ bei, sondern ermächtigen sich eines anderskulturellen Begriffs und reduzieren ihn auf eine Art von Schimpfwort. Ferner ist es heikel Metaphern und Sprechweisen reflexiver Selbstkritik als Außenstehende mitbenutzen zu wollen. Beispiel: Viele Deutsche schimpfen über bestimmte Verhaltensweisen deutscher Mitbürger als „typisch deutsch“. Es wäre – obwohl ich deutscher Staatsbürger bin und mich als Deutscher fühle – aus meiner Sicht vermessen, wenn ich nun auch, wenn ich öffentlich über bestimmte Deutsche schimpfen will, dies mit der Formel „typisch deutsch“ garnieren und dann z. B. behaupten würde, dass dies doch eine ganz normale stehende Redewendung sei. So einfach funktioniert Sprache nicht, wie uns die Sprachpragmatik deutlich gelehrt hat.

Darum: Bitte tun Sie dies (über „kleine Paschas“ schimpfen) nicht.

Beziehungsweise: Bitte tun Sie dies nicht mehr.

Denn dadurch bauen Sie nicht nur eine dicke emotionale Mauer zwischen sich und Millionen muslimischer und insbesondere türkischer Bürgerinnen und Bürger Deutschlands auf. Diesen Preis sollten Sie, sollten wir uns in Deutschland nicht mehr leisten, gerade in Zeiten, in denen die Musliminnen und Muslime in Deutschland, also insbesondere auch die sehr gut integrierten unter ihnen, von sehr vielen Seiten täglich die Botschaft gesendet bekommen, dass sie eigentlich schon seit dem Kreißsaal fremd und unerwünscht in Deutschland sind.

Sie, lieber Herr Merz, haben aber auch die Chance die Herzen dieser Menschen zu gewinnen. Bitte achten Sie darauf, auf wessen Rat Sie hören. Holen Sie immer ein paar Gegenmeinungen ein, wenn Sie sich zu diesen Themen äußern wollen. Es genügt nicht „Migrationshintergrund“, oder einen türkischen oder arabischen Namen zu haben, um qualifiziert über die Alltagsrealität von Muslimen in Deutschland sprechen zu können. Fragen Sie Leute, die nicht eine offene Rechnung mit ihrem muslimisch geprägten Herkunftsmilieus haben und nun alles tun, um die gesamte deutsche Gesellschaft kollektiv gegen Menschen, die sich religiös als gläubige Muslime definieren, oder für die das Herkunftsland ihrer Eltern weiterhin eine Identität stiftende Rolle spielt, zu wenden.

Seien Sie sicher: Die meisten von diesen Menschen haben auch eine starke deutsche Teilidentität. Stärken Sie diese! Denn diese Seite wird auf der emotionalen Ebene brüchiger, mit jeder Debatte, in der pauschal Muslime als Schuldige, als Täter, als die Bösen gelten. Diese Brüchigkeit nimmt zu, obwohl Muslime noch nie so weitflächig integriert in Deutschland waren wie heute. Es ist irrsinnig, was da passiert, weil man über Muslime redet und urteilt, aber ihnen nicht zuhört. Sie haben viel zu berichten, an Hoffnung, an Enttäuschung und auch an bitterem Schmerz schon als Kind, für den sich aber hinterher niemand verantwortlich fühlen möchte.

Liebe Herr Merz, Friedrich Pascha, mit einer Fortsetzung dieses populistischen Spiels würden wir all langfristig sehr viel verlieren. Es ist schon viel verloren, viel mehr, als Sie bislang vielleicht gesehen oder gehört haben. Es schmerzt. Es reicht.

Darum frage ich Sie, gar nicht auf der ohnehin klaren formalen, sondern auf der zwischenmenschlichen, emotionalen Ebene:

Möchten Sie auch der Bundeskanzler der Muslime Deutschlands sein?

Möchten Sie auch mein Bundeskanzler sein?

PS: Willkommen an alle Leserinnen und Leser zu meiner neuen wöchentlichen EinSpruch-Kolumne zu aktuellen Themen.