Make Mankind Great Again! Gespräch über den „Bund der Vernünftigen“ (Teil 1)

Was soll nun diese Rede von einem Bund der Vernünftigen? Willst du eine neue Partei gründen? Oder ist das so etwas wie eine Sekte mit dir als Guru? Eine neue Aufspaltung der Menschheit in Gute und Böse?

Partei, Sekte, Aufspaltung… Das sind drei sehr verschiedene Dinge, die du da aufzählst. Nur einer der drei Punkte trifft auf den Bund der Vernünftigen zu, nämlich der dritte, und das auch nur teilweise: Ja, ich plädiere für eine Einteilung der Menschheit in Gute und…

… und Böse.

Nein, in Gute und potenziell Gute. Die nur potenziell Guten, das sind manchmal in der Tat die Bösen. Andererseits will kaum jemand je mit Absicht böse gewesen sein. Gut hingegen will jeder sein. Der Bund der Vernünftigen ist kein Club, in dem man offiziell Mitglied wird. Vielmehr kann jeder jederzeit durch sein Handeln und Denken hinzustoßen und auch ebenso schnell wieder austreten. Ich will darum werben, dass jeder sich aktiv darum bemüht jemand zu sein, der dauerhaft dazugehört, mich eingeschlossen. Unentschlossene nützen hier auf Dauer nichts.

Und wie erkenne ich, ob ich zum Bund der Vernünftigen gehöre?

Wenn der Schmerz des anderen zu deinem Schmerz wird, ohne dass du dabei deine Identität aufgibst, und wenn die Unversehrtheit des anderen zu deiner Unversehrtheit wird, ohne dass du dabei deine Identität aufgibst, dann bist du ein verdammt guter Kandidat.

Und was ist deine Rolle bei dem ganzen?

Na, die gleiche wie die aller anderen. Vor dem Richterstuhl der Vernunft sind wir alle gleich. Ich bemühe mich hier nur als Propagandist für etwas, das ohnehin bei jedem im eigenen Garten wächst. Und ich sage: Die Guten werden siegen, selbst wenn sie noch nicht ahnen, dass sie zu den Guten im eben genannten Sinn zählen!

Und wer sind diese Guten deiner Meinung nach? Die Anhänger deiner Religion, deines Musikgeschmacks oder deiner politischen Präferenz, während die anderen noch nicht so weit sind und in der Warteschleife sitzen?

Immer diese Polemik… Nein, es geht mir hier nicht um Religion oder Politik, zumindest nicht vorrangig. Mmh, oder doch, es geht mir auch um Religion und Politik, natürlich. Aber hier in einem sehr speziellen Sinn: Es geht mir um Vernunft, um den blanken Menschen als Mensch, wie er in allen Religionen und Weltanschauungen Thema ist. Muslime, Juden, Christen… Anhänger jedweder Religionen, Agnostiker, Atheisten … Konservative, Liberale, Orthodoxe… Sozialisten, Nationalisten, Anarchisten… Der Bund der Vernünftigen setzt sich aus den Vernünftigen dieser und fast aller weiteren sich auf den ersten Blick widersprechenden Gruppen zusammen.

Ja, aber jede dieser Gruppen hält sich doch auch so schon für mehr oder weniger ausreichend vernünftig. Daraus wird noch lange kein Bund und erst recht keiner, von dem mehr zu erwarten wäre als das heutige Chaos in der Welt, das doch von den angeblich so vernunftbegabten Studierten und Diplomierten angeführt wird.

Ich rede nicht vom studierten, zweckrationalen oder begründendem Handeln. Das kann ja jeder. Hitler war auch auf seine Weise in manchem rational, aber er war nicht im Ansatz gut. Und Begründungen, die nichts taugen, gibt es laut meinem Glauben schon seit dem Fall von Iblis. Mir geht es um ein anderes Verständnis von Vernunft, die irgendwo in allen Menschen schlummert und uns wieder aus der Versenkung holen und das Dunkel wieder hell machen wird. Wir werden entweder alle gemeinsam die Talfahrt stoppen, oder wir werden alle gemeinsam erbärmlichst zugrunde gehen. Das Wahlmotto des Bundes der Vernünftigen lautet dabei: Make mankind great again!

Hahaha! Das sind zu große Worte für meinen Geschmack.

Umso schlechter für deinen Geschmack. Kleiner habe ich es nicht, sorry.

Und wie soll das alles gehen, ohne Partei und ohne definierte Bezugsgruppe?

Wieso? Es gibt hier sehr wohl eine Bezugsgruppe, sie ist die älteste der Welt und die größte der Gegenwart. Nur ist sie nicht so strukturiert, wie du denkst.

So, wie denke ich denn?

Du hältst die rein historisch, ökonomisch und pragmatisch begründeten Gruppenformationen in der Welt für tiefgründige Unterschiede in der Weltanschauung. Dabei ist meist, wenn auch nicht immer, das Gegenteil der Fall: Viele Weltanschauungen entwickeln sich unter dem Druck der historisch gewachsenen und ökonomisch stabilisierten gesellschaftlichen Spaltungen. Und du machst noch weitere ähnliche Denkfehler.

Und die wären deiner Meinung nach?

Der zweite Fehler ist zu glauben, dass sich echte Gruppen nur durch äußeren Zusammenschluss bilden können. Im Fall des Bundes der Vernünftigen sind äußere Zusammenschlüsse aber eher kontraproduktiv, da die Satzung im Innern des Menschen codiert ist und von jedem selbst entschlüsselt werden muss. Ein Anbinden an Clubs und Vereine wird der Größe und Universalität des Bundes des Vernünftigen nicht gerecht. Clubs und Vereine können hier aber manchmal eine konstruktive Zuspielerrolle spielen. Und ein dritter Fehler ist zu erwarten, dass diese Gruppe irgendwie homogen sein muss. Und eben dies trifft weder für die Weltanschauung, noch für die Alltagspraxis der Mitglieder des Bundes der Vernünftigen zu.

Also ein richtiger Chaotenhaufen von Idealisten ohne jedes Programm.

Wir sind in der Theorie und Metaphysik verschieden, selbst in vielen Fragen der Lebenspraxis. Aber was das universell Humane betrifft: Hier findet sich ein weitgehender Konsens, der mächtiger und größer ist als alle anderen sichtbaren politischen Strukturen der Welt. Ich weiß das. Ich erlebe das täglich. Es gilt sich dies bewusst zu machen, die Zeit und die Bildungssituation gerade in den Wohlstandsgesellschaften ist reif dazu. Selbsterkenntnis wird hier politisch, wenn es denn zu ihr kommt. Sie ist eine Gefahr für jeden Versuch der Zentralisierung von Macht und Herrschaft. Diese Gefahr für Macht ist die steigende Hoffnung für den Menschen. Denn: Wir sind überall und die Zeit ist reif! Wir erleben in den letzten Jahren ein Erstarken des auf Angst, Egoismus und Abgrenzung basierenden Herrschaftsdenkens. Er trägt einen totalitären Keim in sich. Es liegt am Bund der Vernünftigen diesem Trend Besseres entgegenzusetzen, mehr denn je. Jetzt!

Deine Aufteilung teilt die Welt oder die Gesellschaft dennoch in neue Gruppen auf. Was du da beschreibst, ist eine Art unverbindlicher Abklatsch von sozialumstürzlerischen oder vermeintlich aufklärerischen Gruppen, die letztlich zu einer Weltretter- und Wichtigtuergemeinde unter vielen werden. Sie erzeugt einen Riss, wo schon genügend andere sind.

Nein, der Riss, von dem ich rede, teilt die Gesellschaft und die Welt nicht in neue Ideologien, Religionen oder Identitäten auf. Das hat schon die Geschichte ausreichend gemacht. Damit habe ich längst meinen Frieden geschlossen. Warum sollte ich da noch einen Riss draufsetzen, wo ich mich doch selbst religiös und gesellschaftlich klar verorte und mit diesem Ort zufrieden bin?

Wo soll denn der Riss dann durchgehen?

Der Riss geht mitten durch alle Kulturen, Religionen und Identitäten durch. Durch alle Gesellschaften, Berufs- und Altersgruppen, durch soziale Klassen und Familien, ja sogar durch Individuen selbst. Wir leben in historisch einzigartigen Zeiten. Noch nie waren alle Religionen, Kulturen und Identitäten so sichtbar und so unabweislich durchzogen von einem tiefen inneren Widerspruch, der alle Praktiken teils tödlich ambivalent macht und der alle Gruppen potenziell in Vernünftige und Irre – oder nenne sie Unvernünftige oder sonst wie – aufteilt und jeden zu einer Positionierung nötigt.

Aber wie soll dieser Riss denn selbst durch ein Individuum gehen?

Was das Individuum betrifft: Noch nie gab es so unverhältnismäßig viel Bildung und Wohlstand für so viele Menschen, und noch nie ist Bildung – im Verhältnis zu ihrem Umfang meine ich – derart unwirksam bei der humanen Gestaltung der Welt, ja des eigenen Lebens gewesen. Dieser Widerspruch ist auch in unserem Bewusstsein präsent, in Form verschiedener Stimmen und Interessen, die zu einem bestimmten Teil reflektiert und aufgeklärt und zu einem anderen Teil von destruktivem Potenzial durchzogen sind, das wir als Risikoherd immer in uns tragen. Es gilt zu lernen dies unter Kontrolle zu halten und damit zu leben. Wie ist es sonst zu erklären, dass selbst dort Missgunst, Neid und Konflikte entstehen, wo die Probleme laut Absichtsbekundung eigentlich schon längst gelöst sein müssten und wir uns unserem eigentlichen individuellen Potenzial widmen könnten? Wenn sich Gute ständig gegenseitig im Weg stehen, dann wisse, dass da auch Ungutes mitspielt, das sich vor Selbstreflexion zu schützen versucht. Wohlgemerkt: Ich streite nicht ab, dass Bildung den Lebensstandard von großen Teilen der Menschheit massiv verbessert hat. Aber wir bleiben dabei global betrachtet derart weit hinter unseren neuen Möglichkeiten zurück, dass wir von einer regelrechten Aushöhlung von Bildung, das heißt von der möglichen Menschheitsbildung, sprechen müssen. Und diese Aushöhlung setzt eben schon im Fühlen und Denken des Individuums an. Darum ist der Bund der Vernünftigen vor allem selbstkritisch. Der entscheidende Schritt besteht nun darin diese definierende Selbstkritik nicht zu verwechseln mit politischer und gesellschaftlicher Passivität oder Unterwürfigkeit.

Wie stellst du dir denn Bildung, die deinem Verständnis von Vernunft gerecht wird, dann vor?

Fangen wir bei der Vernunft an. Für mich umfasst Vernunft die Fähigkeit das Allgemeine zu erkennen bzw. das erkennende Subjekt auf das Allgemeine zu verpflichten. Vernunft ist das, was uns von der logischen Datenmaschine unterscheidet. Vernunft ist subjektiv, aber universell. Vernunft erahnt das Allgemeine, sucht es zumindest und lässt uns Kandidaten dafür finden. Auch wenn Vernunft im einzelnen irren kann: Die Grundrichtung auf ein Allgemeines scheint mir eindeutig. Damit meine ich sowohl das Allgemeine hinsichtlich der Prinzipien des schlüssigen Denkens, als auch das Allgemeine, was den Menschen, das rechte Handeln und das große Ganze generell ausmacht.

Also Logik, Anthropologie, Ethik und Kosmologie.

Ja, aber nimm für die Gläubigen wie mich noch die Theologie mit dazu. Diese Disziplinen verstehe ich an dieser Stelle aber nicht im Sinne einer fertigen Lehre – die muss jeder für sich wählen -, sondern als Leben und Suchen, auch im Sinne von Gefühl und Intuition. Vernunft ist nicht Wissenschaft, aber sie braucht Wissenschaft. Am Ende des Tages sind wir aber auf uns selbst zurückgeworfen mit all unserem Gefühl, unserem Gewissen, mit all dem Überschuss an Sinnesdurst und an Fähigkeit zur utopischen Vision, die zu keinem nahen Zweck passt. Gefühl und Wissenschaft: Vernunft lebt von beidem.

Aber wie soll man denn Wissenschaft oder das Denken fühlen? Die Rationalität der modernen  Wissenschaft ist doch gerade einer Trennung dieser Bereiche geschuldet.

Das ist genau der Punkt: Gute und erfolgreiche Wissenschaft entsteht, wenn man Denken und Fühlen an der richtigen Stelle zu trennen weiß. Gute Lebenspraxis entsteht wiederum erst dann, wenn man Denken und Fühlen bewusst aufeinander bezieht. Was man in der gesellschaftlichen Praxis beobachten kann, unterläuft oft beides: Bei Entscheidungen, die alle betreffen, werden wissenschaftlich weitgehend anerkannte Erkenntnisse schlichtweg ignoriert und das unvernünftige Gefühl bzw. das Eigeninteresse entscheidet. Bei Fragen der globalen Gerechtigkeit werden gute Absichten herausposaunt, während unsere eigene Lebensweise auf völlig transparentem Weg zu einer Stabilisierung oder gar Vergrößerung der globalen Not beiträgt. Wir predigen ferner Demokratie und Menschenrechte, aber finanzieren Despoten und Bürgerkriege auf anderen Kontinenten. Wir predigen Gott und schänden das Wertvollste an seiner Schöpfung. Wir predigen Menschenwürde und verdienen gleichzeitig großes Geld durch den Verkauf technisch perfektionierter Tötungsmaschinen. Ist das denn kein Widerspruch von der besonders grotesken Sorte? Denken und Fühlen werden hier in einem Moment getrennt, wo die Verbindung lebenswichtig wäre. Vernunft macht nun unerbittlich auf diese Widersprüche aufmerksam.

Aber das ist doch beliebig. Jeder erkennt Widersprüche dort, wo er gelernt hat diese zu erkennen.

Das stimmt in einem alltäglichen Sinn natürlich. Für die reflektierte selbstkritische Vernunft, die nach dem Allgemeinen sucht, sind dies jedoch noch Vorstufen der wirklich fundamentalen Widersprüche, auf die jeder Denkende und Fühlende früher oder später stößt, wenn er den Mut und Biss hat weiter zu schürfen. Diese Vernunft lässt sich nicht mit der Ausrede abspeisen, dass es doch auch andere Arten von Widersprüchen gibt, über die man sich ärgern könnte, also die ganzen populären Tagesthemen, die uns kostenlos serviert werden. Vernunft vermag das Zentrum des Dramas zu suchen und zu benennen. Und für dieses Zentrum gibt es erfahrungsgemäß viel weniger Kandidaten als für die Widersprüche des Alltags, über die man sich ärgern könnte. Vernunft ergreift Partei für den Menschen und das allen Gemeinsame, ohne Rücksicht auf Verluste oder auf die aktuelle Marktlage. Sie ist tätig und entwirft Visionen, auch wenn sie nach außen schweigt. Das macht ihr Potenzial aus. Und sie ist nicht alleine dabei, sondern in großer und edler Gesellschaft, eben im Bund der Vernünftigen. Darum brauchen wir als Zusammenschluss der Ungleichen ein Bewusstsein von der uns allen gemeinsamen Vernunft, die uns auf das Grundlegende hinweist. Nicht um Bestehendes zu ersetzen, sondern um es zu humanisieren und für den Menschen als Mensch dienstbar zu machen. Wie man den Ursprung dieser Vernunft dann im Rahmen der eigenen Weltanschauung oder Metaphysik verortet, muss dann jeder selbst wissen. Ich finde mein Fundament dafür in einem rational und spirituell erschlossenen Islamverständnis, darüber hinausgehend aber auch Inspiration dafür in vielen anderen Traditionen. Denn Vernunft ist universell. Für den Bund der Vernünftigen zählt nicht die gemeinsame Weltanschauung, sondern einzig der gemeinsame Blick auf eine humanere Welt mit weniger Schmerz und das gemeinsame aus den Tiefen hämmernde Gefühl der Verantwortung für den anderen….

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