Substanzielle und erkenntnistheoretische Begründungsversuche
von Heilsinklusivismen im Islam


1) Einleitung

In dieser Studie soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern ein islamisch-theologisch begründeter Heilsinklusivismus denkbar ist, demzufolge auch Nichtmuslime aus islamischer Perspektive das ewige Heil erlangen können. Hierzu soll zunächst das inklusivistische Modell des zeitgenössischen türkischen Koranexegeten Süleyman Ateş in der Darstellung von Abdullah Takım skizziert werden. Im Koranzugang von Ateş können insbesondere auch Juden und Christen – entgegen der Mehrheitsmeinung der islamischen Orthodoxie – unter Beibehaltung ihrer Religion das umfassende Wohlgefallen Gottes und somit das jenseitige Heil erlangen und das Paradies betreten. Ein solcher Ansatz wird hier als ein theologisch-substanziell begründeter Heilsinklusivismus verstanden, der zugleich beansprucht ein fester und belastbarer Bestandteil von richtig verstandener islamischer Lehre zu sein. Die dabei aufgeworfenen Thesen sollen anschließend nach ihrer koranischen Belegbarkeit befragt werden. Nach einer Diskussion der Schwächen und möglichen Aporien dieses Inklusivismuskonzepts soll dem ein erkenntnistheoretisch begründeter Heilsinklusivismus gegenübergestellt werden, der ebenfalls im Rahmen der islamischen Theologie formuliert werden kann und beispielsweise schon bei al-Ġazālī (gest. 1111 n. Chr.) zu finden ist. Dieser Ansatz soll hier zum einen unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten entwickelt und zum anderen ebenfalls auf seine koranische Belegbarkeit befragt werden. Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist, dass ein erkenntnistheoretisch begründeter Heilsinklusivismus auch im Rahmen klassischer islamischer Theologie denkbar ist und die Schwierigkeiten der theologisch-substanziell begründeten Ansätze vermeidet. Der dafür gezahlte Preis ist, dass sich die individuelle epistemische Struktur, d. h. die durch Sozialisation und Bildung bedingte Wissens- und Erkenntnisfähigkeitsstruktur des Individuums als eigenständiger Pol in der Frage nach der Verpflichtung auf den Koran herausstellt. Da dieser epistemische Bereich jedoch ein grundsätzlich subjektiver ist, bedeutet dies zugleich, dass die objektive Kanonisierbarkeit des kategorischen Ausschluss von Nichtmuslimen vom Heil – auch im Rahmen klassischer islamischer Theologie – nicht konsistent aufrecht erhalten werden kann.

Inhalt:

1……… Einleitung

2……… Substanziell-inklusivistische Ansätze und die koranische Basis

2.1        Die Bedingungen für das Heil der Buchbesitzer laut Ateş

2.2        Der substanziell begründete Inklusivismus vor dem Hintergrund des Korans

2.3        Zwischenfazit

2.4        Die drei Aporien des substanziell begründeten Inklusivismus

3……… Erkenntnistheoretisch-inklusivistische Ansätze und die koranische Basis

3.1        Al-Ġazālīs erkenntnistheoretischer Ansatz in der Heilsfrage

3.2        Struktur des erkenntnistheoretischen Ansatzes

3.3        Koranische Basis des erkenntnistheoretisch begründeten Inklusivismus

3.4        Weitere Hinweise auf konfessionsunabhängigen Unglauben

3.5        Adressatenorientiertes Kohärenzideal der koranischen Argumentation       

4……… Fazit und Ausblick 

Quellen / Fußnoten

2) Substanziell-inklusivistische Ansätze und die koranische Basis

Der 1933 im türkische Elazığ geborene Süleyman Ateş ist ein muslimischer Theologe und Koranexeget und vertritt einen reformorientierten Zugang zu diversen Fragen der islamischen Theologie, wie der Titel „Die zeitgenössische Interpretation des Erhabenen Korans“[1] seines zwölfbändigen Korankommentars erahnen lässt. Während den Arbeiten am seinen bereits inklusivistisch argumentierenden Korankommentar löste Ateş 1989 mit einem Artikel unter dem Titel „Keiner besitzt ein Monopol auf das Paradies“ eine breite und hitzige Debatte unter türkischen Theologen aus. Eine solche inklusivistische Position stellt einerseits eine sehr versöhnliche Perspektive auf die nichtislamischen Religionen in Aussicht. Sie verlässt jedoch zugleich aber auch das klassische Dogma, dass ein jenseitiges Heil eine Zugehörigkeit zum Islam voraussetzt, sofern die betreffende Person religionsmündig und in ausreichender Kenntnis der Sendung des Propheten Muhammad ist. „Die Muslime besitzen ein Monopol auf das Paradies“, lautete der Titel einer direkten Antwort darauf, die die klassische und faktisch exklusivistische Mehrheitsposition hervorhebt.[2]

2.1) Die Bedingungen für das Heil der Buchbesitzer laut Ateş

Die wesentlichen Thesen Ateşs zeigen sich in seiner folgenden Aussage im Werk „Gerçek din bu”[3]:

„Diejenigen Schriftbesitzer, die in ihrer eigenen Religion bleiben und so zum Monotheismus zurückkehren, dabei aber die abergläubischen Gebräuche, die in ihre Religion eingedrungen sind, im Lichte der Prinzipien des letzten Propheten, aufgeben und somit die Essenz ihrer Schriften praktizieren und gemäß diesen Prinzipien Gottesdienst leisten, verdienen als Belohnung das Paradies“[4]

Wie man sieht, handelt es sich auch bei Ateşs Ansatz um keinen kategorischen Inklusivismus oder gar theologischen Pluralismus, sondern um einen bedingten Inklusivismus mit folgenden Bedingungen:

(B1)    Befolgen einer Offenbarungsschrift

Nur mit der Befolgung einer himmlischen Offenbarungsschrift ist demnach eine Teilhabe am Heil möglich. Dies ist der Grund, warum Juden und Christen besonders im Fokus der Argumentation stehen, da laut Ateş Thora und Evangelium die Offenbarungsschriften außer dem Koran schlechthin darstellen. Einen echten Bekehrungsauftrag verfolgte der Prophet demnach nur gegenüber den arabischen Götzendienern. Aufgrund der Religionsabhängigkeit dieses Inklusivismus wird die Begründung dieses Ansatzes hier als substanziell bezeichnet.

(B2)    Monotheismus im Sinne des abrahamisch-muhammadanischen Islam

Für die Teilhabe am Heil wird von den vorislamischen Religionen also erwartet, dass sie ihre eigenen Theologien und Praktiken von jenen Elementen befreien, die der muhammadanische Islam als Abirrung vom ursprünglichen monotheistischen Gedanken gebrandmarkt hat. Eine darüber hinaus gehende Übernahme islamischer Praktiken oder ein formaler Übertritt zum Islam ist laut Ateş also keine Voraussetzung.

(B3)    Praxis und Gottesdienst

Die Erlangung des Heils setzt nicht nur die formale Zugehörigkeit zu einer Buchreligion, sondern eine Praxis der eigenen Religion voraus, sowohl im ethischen, als auch im gottesdienstlichen Bereich. Insofern ist es in Gottesgehorsam praktizierte Offenbarungsreligion, die als vor Gott legitimiert gilt.

Mit diesen drei Bedingungen ist der Verkündungsauftrag des Propheten selbst also nicht obsolet, aber sein

„… Auftrag (risāla) ist jedoch kein Auftrag, der die Offenbarungsreligionen aufhebt (nasḫ). Wenn dies so wäre, dann hätten die Verse, von denen wir oben einige angeführt haben[[5]] und von denen noch viele andere existieren, keine Bedeutung. Diejenigen Völker, die an Gott glauben und eine Offenbarungsschrift in ihren Händen besitzen, sind jedoch freigestellt. Wenn sie wollen, können sie den Gottesdienst gemäß den Riten ihrer eigenen Religion praktizieren oder sich für diese neue Religion entscheiden. Wichtig dabei ist, daß der Mensch aufhört, einen anderen als Gott zu verehren (širk) und nur Gott dient.[6]

Soviel zu den Thesen Ateşs. Nun wollen wir der Frage nachgehen: Inwiefern lässt sich eine solche Sichtweise islamisch begründen, wo doch der Glaube an die Sendung Muhammads und den Koran, die Annahme einer Verfälschung der biblischen Offenbarungen und die Zurückweisung der Gottesnatur Jesu traditionell zu den Grundlagen des islamischen Glaubens gehören und somit diesen drei Bedingungen entgegen gesetzt scheinen?

Diese Frage soll im Folgenden von zwei Perspektiven aus beleuchtet werden. Zunächst werden wir zeigen, dass es eine durchaus ernst zu nehmende koranische Basis für dieses inklusivistische Modell gibt, die in der klassisch-islamischen Theologie jedoch zu großen Teilen ohne heilstheologische Relevanz geblieben ist. Zum anderen werden wir uns mit den exklusivistisch anmutenden Aussagen des Korans befassen, die auf der Ebene des Wortlautes eine Reihe ernst zu nehmender Spannungen mit der inklusivistischen Perspektive aufweisen. Dieses Spannungsverhältnis wird dann im Fortgang weiter analysiert werden.

2.2) Der substanziell begründete Inklusivismus vor dem Hintergrund des Korans

Im Folgenden soll nun auf fünf Gruppen von Koranversen hingewiesen werden, wobei deren inklusivistischer Charakter mit zunehmender Stufe immer mehr abnimmt. Dabei soll es eher um die Breite des jeweiligen Motivs im Koran gehen und weniger um die zahlreichen exegetischen Feinheiten einzelner Verse, deren Darstellung im Rahmen dieser kurzen Studie nicht möglich ist. Darum werden wir uns hier primär am Wortlaut und den ersten naheliegenden Implikationen orientieren. Bei der Strukturierung der Versgruppen gehen wir zudem deutlich über das bisher skizzierte Modell Ateşs hinaus, das erst im Abschnitt 2.4 wieder diskutiert werden soll.

2.2.1) Versgruppe 1: Legitimation zur Beibehaltung eigener Religion

Viele Koranstellen deuten darauf hin, dass es von Gott gewollt und gebilligt ist, dass es unterschiedliche Glaubensgemeinschaften gibt, die jeweils ihrer eigenen Religion folgen, die ihrerseits somit also als „wahr“ gelten kann.

Aus der mekkanischen Phase:

  • Gott sandte neben Koran auch Thora herab mit Licht und Rechtleitung, aus dem die Menschen Papyrusrollen machen (6:91)[7]
  • Der Koran bestätigt die vorigen Schriften (6:92)

Aus der medinensischen Phase:

  • Den Mitgliedern des Volkes der Schrift, die an Gott und das Jenseits glauben und gute Werke verrichten, ist das ewige Heil versprochen (2:62, 5:69)
  • Die Juden und Christen vergaßen einen Teil dessen, womit sie einst von Gott ermahnt worden waren. Muhammad wurde gesandt um ihnen vieles davon klar zu machen, was sie von der Schrift verborgen halten. (5:12-14)
  • Gott gab jeder Gemeinschaft ein Gesetz und einen Weg – sie sollen im Guten untereinander wetteifern (5:48).
  • Jeder hat eine Richtung, nach der er sich kehrt. Wetteifert darum untereinander im Guten (2:148)
  • Die Leute des Evangeliums sollen nach dem urteilen, was Allah darin geoffenbart hat (5:47)
  • Für jede Gemeinschaft wurde ein etwas anderer Ritus zur Opferung im Namen Gottes festgelegt (22:34).
  • Wie kommt es, dass die Juden Muhammad zum Richter machen, wo sie doch die Thora besitzen? (5:43)
  • In Thora gibt es Rechtleitung, der die Juden zu folgen haben. Nicht nach dem Geoffenbarten zu urteilen ist Unglaube (5:44)
  • Muhammad selbst soll dem folgen, was Gott ihm gegeben hat und sich nicht davon abbringen lassen (5:48)

2.2.2) Versgruppe 2: Abraham statt christlich-jüdischer Exklusivismen

Mit dem obigen Punkt verwandt sind zahlreiche koranische Passagen, die ihrerseits den Juden und Christen exklusives Denken vorwerfen und sie dazu mahnen sich an Abraham als den die Religionsgemeinschaften übergreifenden Vorbild zu orientieren:

  • Sie sagen, nur Juden oder Christen kämen ins Paradies – nein, all jene bekommen ihren Lohn, die ihr Gesicht Gott ergeben und gutes Tun. Auf sie kommt keine Furcht und Trauer (2:111-112).
  • Sie sagen, man müsse Jude oder Christ werden, um errettet zu werden – aber nein, es ist nur Abraham ist zu folgen (2:135)
  • Der Prophet Muhammad und seine Gemeinde gehören zu denen, die Abraham am nächsten sind (3:68)
  • Folgt Abraham! (3:95)
  • Die Juden und Christen sagen, sie seien Gottes Söhne und Lieblinge – warum straft Gott sie dann? Sie sind nur gewöhnliche Geschöpfe. Gott vergibt, wem er will, und straft, wen er will. (5:18)
  • Abraham war weder Jude noch Christ, sondern ein wahrer Gläubiger, ein Gottergebener (arabisch: „Muslim“) (3:67)
  • Wer hätte eine bessere Religion als der, der sein Gesicht Allah hingibt, Gutes tut und Abraham folgt als Anhänger des rechten Glaubens? (4:125)

2.2.3) Versgruppe 3: Würdigung des Korans durch Buchbesitzer

Während die bisherigen Stellen auf einen Religionspluralismus deuten, weisen folgende Stellen jedoch darauf hin, dass der Glaube der Buchreligionen an die eigene Offenbarung um den Glauben an die Offenbarung des Propheten Muhammad ergänzt werden soll

  • Die Schriftbesitzer vor dem Islam glauben an den Koran – und sie bekommen von Gott ihren doppelt dafür, da sie standhaft waren (28:54)
  • Manche vom Volk der Schrift glauben erwünschterweise an ihre und eure Offenbarung (3:199)
  • Wenn das Volk der Schrift sowohl Thora, als auch Evangelium, als auch das, „was ihnen von ihrem Herrn herab gesandt wurde“ befolgen würde, würden sie von Gott belohnt werden (5:66)
  • Solange das Volk der Schrift Thora, Evangelium und das, „was ihnen geoffenbart wurde“ nicht befolgt, fußt es auf nichts (5:68)

Es ist die Mehrheitsmeinung in der Koranexegese, dass das „ihnen geoffenbarte“ in den letzten beiden Punkten der Koran gemeint ist. Demnach soll das Volk der Schrift Thora, Evangelium und Koran gleichermaßen würdigen.

2.2.4) Versgruppe 4: Kritik an Theologien der Buchreligionen

Die bisher zitierten Stellen legen die erstaunliche Vermutung nahe, dass der Koran von im Wesentlichen intakten heiligen Schriften bei den Juden und Christen ausgeht, die nicht in Gänze verworfen werden müssen, sondern im Gegenteil, dass in der Thora nach wie vor im Wesentlichen „Licht und Rechtleitung“ (5:43-44) ist, und dass das Volk des Evangeliums dem Evangelium folgen soll, in dem ebenfalls Licht und Rechtleitung ist (5:46-47). Es ist bemerkenswert, dass der Koran in diesen Passagen die in der islamischen Theologie gängige Verfälschungstheorie nicht aufgreift. Man könnte nun die Aussage des Wortlautes diese Verse interpretativ abschwächen und behaupten, dass sich diese Aussagen auf die ursprünglichen Originale der Schriften beziehen. Allerdings gerät man damit – zumindest auf der Ebene des Wortlautes – schnell in Widerspruch zu den vom Koran aktualisierten Aufforderungen an die Juden und Christen ihren Schriften zu folgen. Insofern soll hier die vom koranischen Wortlaut her nahe liegendere, aber inhaltlich durchaus heiklere These der Würdigung der Schriften der Buchreligionen zu Zeiten des Propheten durch den Koran vertreten werden.

Aus der relativ undifferenziert gehaltenen Bestätigung der heiligen Schriften kann man jedoch nicht ableiten, dass der Islam auch die alten Theologien bestätigen würde. Offensichtlich unterscheidet der Koran zwischen der auch zu Zeiten Muhammads noch aktuellen Wahrheit in Thora und Evangelium und den Irrtümern in der gängigen Art von Glaube und Praxis bei den jüdischen und christlichen Adressaten des Propheten. Genau diese unterstellten Irrtümer sind es dann, mit denen sich der Koran als Korrekturinstanz gegenüber den vorigen Religionen rechtfertigt. Hier sind einige der kritischen Passagen zu christologischen Positionen, die der Koran in deutlichen Worten als kufr zurückweist, was gemeinhin als „Unglaube“ übersetzt wird, wobei hier auch angemerkt werden muss, dass diese Übersetzung der semantischen Breite des Wortes nur bedingt gerecht wird.[8]

  • Übertreibt nicht in eurer Religion und sagt nicht „drei“ (4:171)
  • Ungläubige sind die, die sagen, Gott, das ist Jesus. (5:17)
  • Ein Ungläubiger ist, wer da spricht: „Gott ist der Sohn der Maria“ (5:72)
  • Es ist eine Verfälschung Jesus und Maria neben Allah zum Gott nehmen (5:116)
  • Wer Gott als dritten von Dreien bezeichnet, ist ein Ungläubiger. Wollen sie denn Gott nicht um Vergebung dafür bitten? (5:73-74)
  • Die Ernennung von Jesus und Esra zu „Söhnen Gottes“ ist Unglaube (9:30-31).
  • Sie sagen, Allah hat sich einen Sohn genommen. Preis sei ihm! Ihm gehört, was in Himmel und Erde ist (2:116)
  • O Volk der Schrift! Übertreibt nicht in eurer Religion (5:77)
  • Verflucht haben David und Jesus die Leugner unter den Kinder Israels, weil sie sich widersetzten und stets übertraten. Sie pflegten nicht sich gegenseitig das Verwerfliche zu verbieten (5:78-79)

Zu diesen Stellen sollte freilich auch angemerkt werden, dass diese sich ebenso wie der gesamte koranische Diskurs zunächst an die konkreten Kreise aus den ersten Adressaten des Propheten Muhammads richten und auch entsprechend nicht abstrakt das Jesusbild aller Christen, sondern beispielsweise die konkreten Christologien, mit denen der Prophet konfrontiert war, thematisieren. Dieselbe Kontextualität gilt in noch größerem Maße für den koranischen Diskurs mit den Juden, die in Medina, wie man an ihrer Prominenz z. B. in Sure 2 und 5 sehen kann, offensichtlich die größere Herausforderung für den Propheten und den Koran darstellten. Auch eine ausdrückliche Verfälschung von heiligen Schriften neben den Lehren thematisiert der Koran in erster Linie im Kontext seiner jüdischen Adressaten:

  • Manche Juden schreiben das Buch mit eigener Hand und behaupten, dies stamme von Gott (2:79)
  • Die Juden verdrehen den Sinn der Wörter (5:13, 3:78, 4:46, 5:41)

Natürlich stellen sich hier eine Reihe schwieriger religionsgeschichtlicher Fragen: Wie ist es zu verstehen, dass der Koran von dem einen Evangelium spricht, wo doch mindestens vier Evangelien überliefert sind, die zudem eher Berichte über das Wirken Jesu darstellen und weniger Gottesrede? Wie ist „Licht und Rechtleitung“ in der zu Prophetenzeiten aktuellen Schriften Thora und Evangelium zu verstehen, wenn es diese Schriften selbst sind, die teils den Ausgangspunkt der vom Koran wiederum kritisierten theologischen Positionen darstellen? Wie ist „Licht und Rechtleitung“ in Thora und Evangelium zu denken, wenn sich deren Redaktionsgeschichte laut historisch-kritischer Forschung doch als wesentlich langwieriger, unübersichtlicher und unzuverlässiger darstellt als beispielsweise die kompaktere Redaktionsgeschichte des Korans? Wie immer auch die Antwort auf diese Fragen lauten mag: Nimmt man den Wortlaut der oben zitierten Koranpassagen ebenso ernst wie die Erkenntnisse der religionsgeschichtlichen Forschungen der Neuzeit, dann muss islamische Theologie wesentlich mehr Kraft in die Aufarbeitung der koranischen Theologie der Religionen stecken und insbesondere klären, was der Koran genau mit „Evangelium“ und „Thora“ meint. Diese Fragen sollen hier aber nicht im Fokus stehen, da wir ja primär an einer rein immanenten und kohärentistischen Aufarbeitung des Wortlauts des Korans interessiert sind. Stattdessen wollen wir abschließend Abdullah Takım über Süleyman Ateşs Position zum Thema zu Wort kommen lassen:

„Ateş schließt […] nicht aus, dass die Thora von Menschen entstellt worden sei. Sicherlich sei sie [Thora] von Menschenhand geändert worden, aber die Bestätigung der Thora durch den Koran bedeute vielmehr, daß sie die Menschen durch ihre Grundprinzipien rechtleiten könne. Das heißt, daß zwar die Heiligen Schriften zu Lebzeiten des Propheten teilweise entstellt vorlagen, aber der Koran sie trotzdem bestätigt und nicht abrogiert (nasḫ). Im Koran wird also nicht von einer systematischen Verfälschung der Bibel gesprochen.“[9]

Koranverse, die von der eigenhändigen Erfindung von als heilig ausgegebener Schrift durch Juden berichten (insbesondere 2:79) deutet Ateş dahingehend, dass sich diese auf jüdische Kommentare zur Thora beziehen könnten.[10] In jedem Fall sehen wir hier Ateşs Auflösung des Widerspruchs zwischen einer Bestätigung und Würdigung der Thora bei gleichzeitiger Einräumung von menschlichem Zusatz: Es genügt, dass die heiligen Schriften noch in ihrer Essenz wahr genug sind, um vom Koran bestätigt werden zu können, der im Zweifelsfall ja richtend eingreift, oder wie es in 5:48 hierzu passend heißt: „Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinab gesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber.“  

2.2.5) Versgruppe 5: Anerkennung Muhammads als Heilsbedingung

Die größte Schwierigkeit für den islamischen Inklusivisten besteht darin, dass der Koran ausgerechnet zwischen den Passagen, die inklusivistisch oder gar pluralistisch anmuten, teilweise auch deutliche Worte der Missbilligung an jene Nichtmuslime richtet, die die Prophetenschaft Muhammads bzw. den Koran nicht als Offenbarung neben Thora und Evangelium anerkennen. Für eine genaue Verhältnisbestimmung von islamischer zu den nichtislamischen Theologien ist gerade eine Auseinandersetzung mit diesen Passagen notwendig. Zahlreich vorhanden im Koran sind allgemeine Aussagen wie:

  • Es kam zu euch eine klare Lehre Wer sich von unserer Botschaft abkehrt, denn werden wir bestrafen (6:157)

Speziell für den Kontext der Buchreligionen relevant sind folgende Aussagen:

  • Glaubt ihr an einen Teil des Buches und leugnet einen anderen Teil? Dann seid ihr verloren (2:85-86)
  • Wer den Engeln und Propheten Gottes ein Feind ist, der ist ein Ungläubiger (2:98)
  • Wenn sie (das Volk der Schrift) nun das gleiche glauben wie ihr, dann sind sie auf dem rechten Weg. Sonst befinden sie sich im Widerstreit (2:137)
  • Manche sagen, dass sie einen Teil der Propheten anerkennen und einen anderen Teil ablehnen. Sie sind die wahren Ungläubigen. (4:150-151).
  • Wer Gott, seine Engel, seine Bücher, seine Propheten und das Jenseits ablehnt, der ist vom Weg abgewichen (4:136)
  • Errettet werden die, die an das glauben, was auf dich und die vor dir hinab gesandt wurde (2:4).
  • O Juden, glaubt an dieses Buch, das das eurige bestätigt und seid nicht seine ersten Leugner (2:41).
  • Das Gute ist es an Gott, die Engel, alle Bücher und Propheten zu glauben (2:177)
  • Errettung gibt es für den, der an unsere Zeichen (im Koran) und an den Propheten glaubt, den sie bei sich in Thora und Evangelium erwähnt finden; sie sind die, die Barmherzigkeit erfahren werden. (7:156-157)
  • Folgt dem Propheten, der an alle gesandt wurde, sodass ihr rechtgeleitet seid (7:158).
  • Im Kriegsfall tributpflichtig zu machen sind jene vom Volk der Schrift, die nicht an Gott und das Jenseits glauben und nicht das verbieten, was Gott und sein Gesandter verbieten und nicht die Religion der Wahrheit befolgen (9:29)
  • Zum Volk der Schrift kam nun unser Gesandter, ein großes Licht und ein deutliches Buch, das auf den wahren Weg führt (5:15-16).
  • Nach einer Übergangszeit (ohne Propheten), sandten wir einen neuen Gesandten, damit ihr Klarheit bekommt und nicht sagt, warum wurden wir nicht gewarnt (5:19). 
  • Das, was Muhammad offenbart wurde, wird manche von den Juden und Christen in ihrem Unglauben und ihrer Widerspenstigkeit noch wachsen lassen (5:68)
  • Wenn die Christen die islamische Offenbarung hören, sprechen sie „wir glauben“ (5:83-84)
  • Die Juden und Christen werden mit Muhammad erst zufrieden sein, wenn er ihrer Religion folgt. Wenn er ihnen nach diesem Wissen folgt, dann kann ihn keiner retten (2:120,145)
  • Wer als Religion etwas anderes als den Islam begehrt, von dem soll es nicht angenommen werden und er gehört im Jenseits zu den Verlierern (3:85/83/19)[11]

2.3) Zwischenfazit

Halten wir die drei wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Diskussion fest:

(E1) Notwendigkeit einer kohärenten Betrachtung

Für sich isoliert genommen führen die fünf Versgruppen zu sehr unterschiedlichen möglichen Heilsszenarien. Betrachtet man nur die (inklusivistischen) Gruppen 1 und 2, dann implizieren diese einen abrahamisch orientierten theologischen Pluralismus, der nicht mehr als die Zugehörigkeit zu einer Schriftreligion erfordert. Insbesondere, wenn der Vers 2:62 (bzw. 5:69) ohne jede Rücksicht auf den restlichen Korantext zitiert und verallgemeinert wird[12], läuft man Gefahr starke Inkonsistenzen im Koran, ja selbst schon im Umfeld von wenigen Versen davor und danach zu erzeugen. Setzt man hingegen direkt bei den (exklusivistischen) Gruppen 4 und 5 an, etwa wenn 3:85 isoliert und ohne Rücksicht auf die anderen Versgruppen verallgemeinert wird, führt dies unmittelbar zu einem islamischen Exklusivismus. Gemäß 4:82 ist aber davon auszugehen, dass der Koranurheber eine logisch kohärente Botschaft vermitteln möchte, auch wenn der Wortlaut des Korans an einigen Stellen nicht kohärent scheint. Dafür spricht auch die Tatsache, dass dies sich scheinbar gegenseitig ignorierenden Aussagen der fünf Versgruppen bereits innerhalb der selben Sure oder gar der selben Passage befinden – gerade auch in den späten medinensischen Suren, die wie Sure 5 im Wesentlichen nach den ersten großen und auch militärischen Auseinandersetzungen mit den Schriftbesitzern formuliert wurden. Dass auch hier noch alle Versgruppen noch präsent sind, zeigt, dass der Koran auch nach den besagten Konflikten seine theologische Nähe zu diesen nicht aufgab. Diese scheinbaren Inkonsistenzen des Wortlautes in ein und derselben Passage befriedigend und unter Berücksichtigung zeitgenössischer religionswissenschaftlicher Erkenntnisse über die Geschichte der Religionen aufzulösen, gehört zu den großen Aufgaben gegenwärtiger Koranexegese. Dabei sind Kohärenzstrategien in beiden Richtungen denkbar – die islamische Tradition hat hier eindeutig die exklusivistische Linie bevorzugt und die Versgruppen 1 und 2 entsprechend relativiert.[13] Die Fülle dieser Verse lässt aber den Eindruck aufkommen, dass dabei womöglich einiges ans Sinnpotenzial verloren gegangen ist.

(E2)    Unklarheit der koranischen Konzeption von den anderen Religionen

Unabhängig davon, ob die fünf Versgruppen durch eine inklusivistische oder exklusivistische Brille gelesen werden, bleiben Fragen zu den kritisierten theologischen Konzepten insbesondere der Christen, aber auch zum koranischen Bild von den Schriften der Buchbesitzer. Darum könne diese ohne eine kritische exegetische Vermittlung nicht unmittelbar in Beziehung zu den vielfältigen Formen des heutigen Christentums in Theologie und Volksfrömmigkeit gesetzt werden. Einiges deutet darauf hin, dass die vom Koran explizit kritisierten Christologien mit den heute vertretenen Christologien nur bedingt vergleichbar sind.[14] Der Koran argumentiert zudem nicht gegen eine kohärente christliche Theologie, sondern gegen ein Bündel von – aus seiner Sicht – im Umfeld des Propheten verbreiteten Irrlehren, die in ihrer Summe zwar zeigen, was der Islam alles nicht sein will, nicht jedoch, dass der Koran einen einzigen kohärenten und restlos rekonstruierbaren christlichen Kontrahenten vor sich sah.[15] Ein ähnliches Problem zeigt sich auch im einfachen Evangelium-Konzept des Korans. Ist dies darauf zurückzuführen, dass dies der zentrale Diskurs im Umfeld des Propheten war, an das der Koran aus didaktischen Gründen angeknüpft hat?[16] Oder wird das Konzept bewusst so einfach gehalten, um die Aufmerksamkeit auf den islamisch gesehen wahren textuellen Kern des Christentums zu lenken ohne sich in die Details zu verlieren? Unabhängig davon, wie das Ergebnis genau lautet: Die Versgruppen 1 und 4 zeigen letztlich, dass der Koran gleichzeitig das zentrale Offenbarungsgut der Christen bestätigen und Christologien, die von einer Gottesnatur Jesu ausgehen, zurückweisen wollte.

(E3) Der Reform- oder Ablösungsanspruch des Korans

Selbst im inklusivistischen Szenario kommt der Sendung Muhammads über die Versgruppe 4 und erst recht über die Gruppe 5 eine zentrale Bedeutung zu, nämlich als Korrektur von vorislamischen Lehren in Juden- und Christentum, die der Koran als Verfälschung der ursprünglichen Lehren disqualifiziert und ablehnt. Im exklusivistischen Szenario wird daraus der Anspruch einer vollständigen Ablösung der vorherigen Religionen. Dies ist das Votum der Orthodoxie, freilich bei dennoch gewährter praktischer Toleranz gegenüber den anderen Religionen, bis zur Möglichkeit von Eheschließungen und der Tafelgemeinschaft (5:5). Auch die Inklusivismus-Bedingungen bei Ateş kommen offensichtlich nicht ohne die Bedingung aus, dass die monotheistischen und ethischen Korrekturen durch den Koran zumindest zur Kenntnis genommen und integriert werden müssen, was faktisch einer Anerkennung Muhammads als Propheten gleichkommt ohne jedoch die Religion wechseln zu müssen. Insofern kann Ateş nicht der Vorwurf gemacht werden, dass er den Islam für die Völker der Welt obsolet macht.

2.4) Die drei Aporien des substanziell begründeten Inklusivismus

Vor dem Hintergrund der fünf Versgruppen möchte ich nun drei Aporien formulieren, die sich aus Ateşs Ansatz ergeben:

(A1)    Authentizitätsdilemma der Buchreligionen

Ateş geht davon aus, dass auch die heutigen Schriften der Buchbesitzer authentisch „genug“ sind, dass sie als Offenbarungen im koranischen Sinn verstanden werden müssen. Dafür lassen sich die Wortlaute aus der Versgruppe 1 und 3 als Beleg anführen. Andererseits lässt aber weder die historisch-kritische Bibelexegese, noch die Tatsache, dass viele koranisch kritisierte Thesen der christlichen Theologie ihrerseits zumindest teilweise in den aktuellen heiligen Schriften wurzeln, einen solche Kurzschluss ohne logischen Widerspruch zu. Ohne eine wissenschaftlich belastbare exegetische Klärung, was der Koran genau mit inǧīl, tawrā und zabūr[17] meint, bleibt die Kohärenz von Ateşs Modell für die Gegenwart zumindest fraglich. Das betrifft auch die Frage, inwieweit es heute außerkoranische Christologien gibt, die mit dem koranischen Modell kompatibel sind, und wie man das eigentlich als Vertreter der jeweils anderen Theologie mit Sicherheit herausfinden könnte. Noch komplizierter wird die Frage, inwieweit man heute überhaupt noch außerhalb der semitischen Tradition Religionen als ursprüngliche Offenbarungsreligion identifizieren könnte – denn davon hinge es im Modell von Ateş ab, ob sich die Einladung des Islam auch an diese richtet, oder ob der Islam diesen nur einen reformierenden Impuls geben möchte.

(A2)    Das Anerkennung-Bevormundungs-Dilemma

Der koranische Eingriff in die Christologien ist erheblich. Hier stellt sich sodann die Frage, inwieweit es überhaupt kohärent denkbar ist, dass sich aus den heutigen christlichen Theologien eine am Koran orientierte oder zumindest korankompatible Christologie entwickelt ohne aufhört noch wirkliches Christentum zu sein. Der Koran hat zwar seine Anerkennung und seinen Reformanspruch gegenüber dem Christentum parallel vorgetragen – jedoch ist eine Zusage an seinen Reformanspruch durch christliche Theologien freilich wesentlich voraussetzungsreicher als ein Eingehen auf den koranischen Anerkennungsdiskurs. Auch wenn heutige Anhänger der Schriftreligionen im Zuge einer individuellen Theologie diesen Weg gehen könnten, ist eine solche Perspektive für ganze Glaubensgemeinschaften unwahrscheinlich.

(A3)    Das Orthopraxie-Dilemma

Die häufige koranische Betonung des rituellen Gebets und der Armensteuer als gemeinsame religiöse Praxis aller Buchreligionen[18] sowie die Offenheit in den Formulierungen der koranischen Erwartungen an die Schriftbesitzer mag mit ein Grund dafür sein, dass Ateş in seiner dritten Bedingung allgemein die gottesdienstliche Praxis im Rahmen einer (an den koranischen Monotheismus angepassten) Buchreligion aufführt. Nun zeigt aber die Religionsgeschichte sowie die Vielfalt der gegenwärtigen religiösen Praxis in den Buchreligionen, dass Form und Zeiten der Gottesdienste in Christentum und Judentum in der Geschichte regional ebenso variieren wie im jeweiligen historischen Verlauf, was auf eine offensichtlich menschliche Steuerung der Riten hindeutet. Im Unterschied dazu haben die Gottesdienste im Islam relativ früh eine Kanonisierung erfahren, die bis heute maßgeblich ist. Diese Gottesdienste lassen sich in Grundzügen auf den Koran und in den meisten Details – samt ihren Variationen – auf Hadithe in den kanonischen Sammlungen zurückführen. Sobald die gottesdienstliche Praxis einer anderen Religion als Pendant zur kanonisierten islamischen Praxis erklärt wird, stellen sich ähnliche Fragen wie in (A1): Reicht die bloße Verortung einer Praxis innerhalb einer Schriftreligion bereits aus um die gottesdienstlichen Bedingungen des Korans, die er auch in den anderen Religionen als gegeben voraussetzt, zu erfüllen?[19] Wenn die Antwort ja lauten soll, wenn also angenommen wird, dass der Koran die Gottesdienstpraxis der anderen als äquivalent zum koranischen „Beten und Armensteuer verrichten“ anerkennt, dann gibt es zur Wahrung der logischen Verhältnisse drei Wege: (1) Der strikte kanonische Charakter der islamischen gottesdienstlichen Praktiken muss ebenfalls so weit revidiert werden, dass auch sie räumlich und zeitlich ähnlich flexibel entwickelbar sind wie z. B. das Fasten im Christentum. (2) Die Anhänger der anderen Religionen müssen ihre Gottesdienste im Wesentlichen islamischen Formen anpassen. (3) Man verzichtet gänzlich auf jeden Vergleich zwischen den Praktiken der Religionen, sofern diese im Wesentlichen auf eine von einer Offenbarungsschrift begründeten Tradition zurückgeht. Die ersten zwei Optionen sind für einen Inklusivismus, der Islam Islam und Christentum Christentum sein lassen möchte, unbefriedigend. Und die dritte Option bedeutet, dass ein solcher Inklusivismus sich selbst keine Rechenschaft über seine praktischen Dimensionen ablegen kann, also keinen immanenten Schutz vor inhaltlicher Beliebigkeit aufweist.

Diese drei Aporien treten auf, sobald man versucht den substanziell begründeten Inklusivismus zu kanonisieren, also quasi katechismusfähig zu machen. Sie fallen jedoch weniger ins Gewicht, wenn man den Inklusivismus als eine rein subjektive und individuelle Möglichkeit vor Gott denkt, die eben nicht mit einem objektiven Kriterienkatalog einhergeht, um den klassische islamische Theologie aber zwangsläufig erweitert werden müsste, wenn Ateşs Modell universelle Gültigkeit beansprucht. Ein individuell gedachter Inklusivismus würde auch gar nicht mit so starken Thesen auftreten wie die drei Bedingungen Ateşs.

Aber wie könnte ein solcher Inklusivismus denn aussehen, der sowohl durch Individualisierung systematische Aporien vermeidet, und zugleich nicht weniger korankompatibel ist als das exklusivistische Modell der islamischen Orthodoxie? Eine mögliche Antwort lässt sich erahnen, wenn man sich vor Augen führt, dass ein großer Teil der bisher in dieser Arbeit angesprochenen Probleme bei der Harmonierung der fünf Versgruppen sowie bei den Aporien im Modell Ateşs formal zwar theologischer, im Wesentlichen aber erkenntnistheoretischer Art ist: Wir wissen (aktuell) auf systematische Weise zu wenig, um definitiv sagen zu können, wie man die einzelnen Versgruppen gewichten und kontextualisieren muss um ein kohärentes System einer koranischen Theologie der Religionen zu erhalten. Wir können aus dem Koran in Grundzügen ableiten, was für eine Glaubens- und Lebensweise er für den Muslim vorsieht. Wir können aber aufgrund exegetischer Unschärfen und immanenter Vieldeutigkeiten nicht mit Sicherheit sagen, wie weit er bereit ist Abweichungen in den Details, oder alternative Schwerpunktsetzungen, oder anders kulturell und religiös geprägte Ausdrucksformen des geoffenbarten Islam als vor Allah „gerade noch legitimiert“ auszuweisen. Interessanterweise ist es aber gerade das Phänomen des immanenten Unwissens in theologischen Systemfragen, das einen Weg zu einem alternativen, nämlich einen erkenntnistheoretisch begründeten Inklusivismus weisen könnte. Dieser weist deutliche Unterschiede zu substanziell begründeten Inklusivismen auf und eröffnet auch neue Perspektiven zur Vereinbarung der  inklusivistischen und exklusivistischen Tendenzen im Korantext. Darum wird ab dem folgenden Kapitel dieser Ansatz dargestellt und diskutiert

3) Erkenntnistheoretisch-inklusivistische Ansätze und die koranische Basis

Im Folgenden gehen wir zunächst vom Erbe der klassischen islamischen Theologie aus. In dessen Rahmen finden wir bereits beim Krisen-Theologen Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111 n. Chr.) die Grundzüge des im Folgenden zu entwickelnden Konzepts.

3.1) Al-Ġazālīs erkenntnistheoretischer Ansatz in der Heilsfrage

Ġazālī schreibt in seiner Abhandlung „Über Rechtgläubigkeit und Toleranz“ (Hervorhebungen von mir):

Nun gehe ich noch weiter und behaupte, dass die Barmherzigkeit Gottes die meisten [nichtmuslimischen] Griechen und Türken unserer Zeit miteinschließt – sofern es Gottes Wille ist. Damit meine ich diejenigen, die in den entfernten Gegenden der Griechen und Türken leben und die der Ruf des Islams nicht erreicht hat. Von ihnen gibt es drei Gruppen:

(1) Zu einer Gruppe ist der Name Muḥammads niemals gedrungen, also sind die [vor Gott für ihren Nichteintritt in den Islam] entschuldigt.

(2) Eine andere Gruppe hat vom Namen Muḥammads und von seiner hohen Qualifikation gehört, kennt aber nicht die Wundertaten. Sie leben in den Grenzländern zum Islam und haben Umgang mit Muslimen. Sie sind Ungläubige, die sich vom rechten Weg abwenden.

(3) Die dritte Gruppe liegt zwischen diesen beiden Stufen. Der Name Muḥammads ist zu ihnen gedrungen, jedoch haben sie nie von seiner hohen Qualifikation und seinen Eigenschaften gehört. Vielmehr hörten auch sie seit den Tagen ihrer Kindheit, dass es einen betrügerischen Lügner namens Muḥammad gab, der vorgab, Prophet zu sein. Genauso hören unsere Kinder, dass es einen Lügner gab, zu dem man „al-Muqannaʿ – der Verschleierte“ sagte.[…] Er habe lügnerisch Prophetie für sich beansprucht und behauptet, Gott habe ihn gesandt.[…] Diese Menschen sind nach meiner Meinung der ersten [entschuldigten] Gruppe zuzurechnen, denn obwohl sie seinen Namen gehört haben, haben sie das Gegenteil dessen gehört, was ihn wirklich qualifiziert und das erregt nicht den Drang nach Prüfung und Untersuchung.[20]

Ġazālī geht in seiner dritten Gruppe also davon aus, dass ein Nichtmuslim, der den Namen des Propheten zwar kennt, diesen jedoch aufgrund von fehlerhafter Information, die er nicht selbst verschuldet, mit „lügnerischer Prophetie“ verbindet statt mit hohen Charaktereigenschaften, die eines Propheten Gottes würdig sind, vor Gott für sein Fernbleiben vom Islam entschuldigt ist. Um vor Gott zur Rechenschaft für seine Verweigerung gegen die Botschaft Muhammads gezogen zu werden ist es demnach erforderlich, dass man von der Existenz des Propheten und seinen hohen Eigenschaften erfahren haben muss und praktische Konsequenzen daraus zieht. Dass die geforderte Konsequenz nicht in einer sofortigen Konversion zum Islam besteht, sondern im Beginnen ernsthafter Nachforschungen, zeigt folgender Abschnitt:

Von der übrigen [nichtmuslimischen] Gemeinde kommt derjenige ins Feuer, der dem Propheten Lüge unterstellt, obwohl die Überlieferungen über sein Auftreten, seine Eigenschaften und seine gegen die Gewohnheiten verstoßenen [sic] Wundertaten an sein Ohr gedrungen sind. Zu den Wundertaten zählen die Spaltung des Mondes, die Lobpreisungen der Kieselsteine, das Heraussprudeln von Wasser aus seiner Hand und schließlich der wunderhafte Koran, mit dem er die Verseschmiede herausforderte und den sie nicht hervorbringen konnten.

Wenn dies alles an sein Ohr gedrungen ist und er sich doch abwendet, ihm den Rücken zukehrt, es nicht untersucht, es sich nicht durch den Kopf gehen lässt und sich schließlich nicht bemüht, es zu glauben, so ist dieser Mann ein Lügner, der seine Religion verleugnet, und er ist ein Ungläubiger. Die meisten [nichtmuslimischen] Griechen und Türken, die in ihren Ländern fern von den Muslimen leben, sind hiervon [jedoch] nicht betroffen.

Wer den Glauben an Gott und an das Jüngste Gericht besitzt – gleich aus welcher Religion er ist – kann die Nachforschung nicht unterlassen, sobald die außergewöhnlichen Wunderzeichen einmal erschienen sind. Für den Fall, dass er während der Untersuchung, die er nicht nachlässig betrieben hat, vom Tode ereilt wird, bevor er ein volles Verständnis errungen hat, so ist auch ihm verziehen, und ihn umfängt die weite Barmherzigkeit Gottes.

Halte die Barmherzigkeit Gottes für weit und ausgedehnt und wiege die göttlichen Dinge nicht mit gewöhnlichen Waagen![21]

3.2) Struktur des erkenntnistheoretischen Ansatzes

Fasst man dies zusammen, dann sieht der rational nachvollziehbare Weg eines Individuums zum Islam nach Ġazālī also folgendermaßen aus:

(W1)   Botschaftskenntnis: Das Individuum erfährt vom Propheten Muhammad und von seinem Sendungsanspruch

(W2)   Qualifikationskenntnis: Das Individuum erfährt von der hohen Qualifikation Muhammads, die für einen glaubwürdigen Propheten notwendig ist

Ab diesem Punkt beginnt die Verpflichtung auf Nachforschung. Dem folgt

(W3) Wunderkenntnis: Einsicht in die zahlreichen Wunder des Propheten, die seine Prophetenschaft beweisen

(W4) Glaubensantritt: Ab diesem Punkt beginnt die Verpflichtung die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen und „sich zu bemühen zu glauben“.

Die Verpflichtung des Individuums vor Gott auf den Glauben an Muhammad ist also nicht schon mit Kenntnissen vom Hörensagen gegeben, sondern setzt voraus, dass es einen Anlass gibt überhaupt Nachforschungen anzustellen, und dass diese Nachforschungen zu klaren Beweisen seiner Prophetenschaft führen. In vielen klassischen islamisch-theologischen Abhandlungen sind es die überlieferten Prophetenwunder, mit denen die Prophetenschaft Muhammads quasi einen objektiv beweisbaren Charakter gewinnt. Entschuldigt ist nach Ġazālī auch eine nicht zum Abschluss kommende Nachforschung aufgrund des eigenen Todes. Nicht entschuldigt nach Ġazālī ist ferner eine aus einem generellen Desinteresse an Religion bzw. Sinnfragen folgende Nachlässigkeit in der persönlichen Forschung.

Entscheidend für uns ist vor allem, dass es sich hierbei um rein individuelle Bedingungen handelt. Denn was ein Mensch auf welche Weise beispielsweise vom Propheten Muhammad erfährt und wie er das Erfahrene in seinen Wissenshorizont einordnet, ist individuell sehr verschieden. Auch die Nachforschungsmöglichkeiten sind individuell sehr verschieden, wobei es keinen garantierbaren Weg der Informationsgewinnung gibt, der das Individuum stringent zur Einsicht in die Wahrheit seiner Sendung führt. Im Gegenteil kann gerade heute, wo im Internet eine radikale Islamkritik ebenso prominent und leicht erreichbar ist wie vorgeblich islamische argumentierende Terrormilizen, ein erhöhter Informationsfluss über den Islam zumindest mittelfristig aus theologischer Perspektive auch kontraproduktiv sein. Selbiges gilt für den von Ġazālī offensichtlich gepflegten Optimismus, dass ein Leben unter Muslimen ein Garant dafür sei mit dem glaubwürdigen und authentischen Kern der muhammadanischen Botschaft in Berührung zu kommen. Es gibt durchaus ernst zu nehmende Berichte von Konvertiten zum Islam, die es als Gottes Segen betrachten, dass sie sich erst mit der koranischen Lehre vertraut machen durften, ehe sie persönlich Muslime kennenlernten, da letzteres sie eher abgeschreckt hätte. Auch an dieser Argumentation sieht man, dass man Formalisierungsversuchen von „idealen“ Erkenntniswegen der Prophetenschaft Muhammads wenig aussichtsreich sind.  

Auch hängt es sehr empfindlich vom persönlichen Bildungshintergrund, vom Umfeld, von Erfahrungen mit Kultur, Religion, Islam, Muslimen etc. ab, aus welcher Perspektive man sich dem Propheten annähert bzw. überhaupt annähern kann. Hinzu kommt, dass sich die Welt viele Jahrhunderte und einige tausend Kilometer vom Wirkungsmoment Muhammads entfernt wesentlich anders darstellt als zu Offenbarungszeiten, sodass die Brücken des Verstehens und Sichhineinfühlens in die Atmosphäre des Korans und des Wirkens des Propheten wesentlich schwieriger und voraussetzungsreicher herzustellen sind.

Auch das Thema Prophetenwunder hat aus Sicht vieler Menschen der Gegenwart nicht den durchschlagenden Effekt, den Ġazālī im oben betrachteten Textauszug[22] ebenso zu unterstellen scheint wie viele anderen muslimischen Autoren vorschwebte. Zu lange her und zu weit weg erscheinen vielen die überlieferten Wunder, zu dünn ist ihre Nachwirkung, zu wirkungsarm bloße Berichte in den Werken gerade jener Religion, deren Wahrheit doch bewiesen werden soll. Wenn man die bloße Überlieferung von Wundern ferner als entscheidendes Argument gelten lassen möchte, stellt sich rasch das Problem, dass Wunder oder ähnliche Phänomene auch in vielen anderen religiösen Traditionen überliefert sind, also auch in denen, von deren Wahrheit man aus subjektiven Gründen vielleicht gerade nichts wissen möchte.  

Kurzum: Der nötige Aufwand mit einem modernen Bildungshintergrund auf rationalen Wegen die objektive Wahrheit der Sendung eines Propheten zu erkennen wächst mit der zeitlichen Distanz zum Propheten an. Hinzu kommen zu klärende wissenschaftstheoretische, literaturwissenschaftliche, texthermeneutische und überlieferungskritische Fragen, die man entweder gänzlich ignorieren kann oder mit viel Glück erfolgreich bewältigt haben muss, um als unparteiischer Forschender in endlicher Lebenszeit durch bloße Nachforschung auf die Wahrheit des Islams zu stoßen. Da ist die von Ġazālī in weiser Voraussicht betonte Wahrscheinlichkeit noch während intensiver Arbeiten der Erforschung des Sendungsanspruchs des Propheten zu sterben in vielen Fällen höher als zuvor unter Berücksichtigung der uns bekannten Kriterien für rational vertretbares Arbeiten zum Ziel zu gelangen. Senkt man wiederum die Qualitätsansprüche an die Erforschung des Wahrheitsanspruchs einer Religion, dann muss man sich dem Vorwurf aussetzen, dass man mit diesen Methoden womöglich auch genauso eine andere Religion als die wahre oder gar einzig wahre ausgemacht hätte.

Man beachte, dass sich all dies Probleme freilich nur in einem objektivistischen und rationalen Szenario stellen. Wenn man diese Bedingungen fallen lässt, dann ist auch denkbar, dass religiöse Wahrheitssuche direkt von den göttlichen Sphären durch Intuition und Fügung mit begleitet und mit entschieden wird. Es ist dann denkbar, dass jemand, der beispielsweise nicht zum Islam findet, zur Gruppe jener Ungläubigen gehört, von denen der Koran sagt, dass ihre Herzen versiegelt sind, und dass sie die Wahrheit nie werden erkennen können (2:6-7). Es ist aber mindestens so denkbar, dass jemand, der aufgrund nicht vorgefundener bestätigender Hinweise den Weg zum Islam nicht findet, vor Gott nicht etwa ein auf ewig verdammter Ungläubiger ist, sondern vielmehr jenen Status hat, der in 17:15 beschrieben ist: „Wir strafen nicht eher, bis Wir einen Gesandten geschickt haben.“ Denn das Ausbleiben einer klaren Folgerungskette bis zur Einsicht in die Wahrheit einer Prophetenschaft ist vom religiösen Effekt her nicht anders wie das subjektive Fehlen dieser Prophetenschaft, was im Wesentlichen Ġazālīs Argument ist. Das erkenntnistheoretisch wohl pessimistischste Szenario aber wäre es festzustellen, dass eine objektive und erkenntnisoffene Wahrheitssuche allein schon aus psychologischen Gründen sehr unwahrscheinlich ist, und dass hier eine Reihe a-rationaler und irrationaler Faktoren erst den Weg ebnen.

All diese erkenntniskritischen Überlegungen und Optionen sind einerseits höchst ernüchternd für einen Erkenntnisoptimisten, aus dessen Sicht der aufrichtige Wille Wahrheit zu finden bereits ausreichend wäre um Wahrheit zu finden. Andererseits erzwingen sie eine grundsätzliche Aufwertung erkenntnistheoretisch orientierter Reflexion in der Frage nach Wahrheit und Erkenntnis, die an ungeahnten Stellen neue Perspektiven eröffnen können.

Dazu muss man die Idee einer Wahrheit mitnichten aufgeben (immerhin argumentieren wir momentan vor dem Hintergrund klassischer islamischer Theologie), sehr wohl aber den erkenntnistheoretischen Optimismus, der unterstellt, dass die Wahrheit quasi unmittelbar sichtbar vor unsere Nase ist, und dass man dazu nur genau hinschauen oder das richtige Buch lesen müsste.

Die hier vertretene Wahrheitstheorie wäre gelagert zwischen einer Kohärenz- und einer Korrespondenztheorie, wobei der praktische Fokus ganz klar auf der Seite der Kohärenztheorie liegen würde: Ein Satz wird subjektiv wahr, wenn sich für ihn im Gesamtsystem meines Wissens eine Auszeichnung als „wahr“ ergibt. Ob der Satz darüber hinaus „wirklich“ wahr ist, kann ich mit den Mitteln eines beschränkten Subjekts nie objektiv beweisen, aber ich kann es vermuten, wenn sich gute Gründe dafür häufen. Das ist die korrespondenztheoretische Seite in diesem Ansatz: Der metaphysische Realismus, dass es da draußen also etwas unabhängig von unserer Subjektivität Wahres gibt, wird hier nicht aufgegeben. Daraus folgt eine Pfadabhängigkeit von Erkenntnis, jedoch keine grundsätzliche Beliebigkeit. Fragen, wie ich den Erkenntnisfortschritt optimieren kann, sind letztlich Fragen der Methodologie sowie der Wissenschaftstheorie, die wir hier außer Acht lassen wollen.

Aus diesem erkenntniskritischen Ansatz folgt also noch kein radikaler Konstruktivismus und auch kein grundsätzlicher erkenntnistheoretischer Relativismus. Aus theologischer Perspektive bleiben ferner Möglichkeiten realer subjektiver Erfahrungen mit Gott, Intuition oder Fügung durch das Wirken Gottes nach wie vor bestehen. Diese Erfahrungen wären dann aber eine intime Sache zwischen Individuum und Gott, die man nicht von außen „formalisieren“, also quasi katechismusfähig machen könnte. Aber es ist denkbar, dass dies subjektive Verpflichtungen gegenüber Gott nach sich zieht.[23] Ebenso ist es denkbar und naheliegend, dass die gelungene Ergründung von wahrer Religion von innen, also von Religion, in die man selbst erfolgreich und bejahend hinein sozialisiert wurde, vor Gott ebenfalls subjektive Verpflichtungsstrukturen mit sich bringt. Auch die intensive Abarbeitung an Texten wie etwa dem Koran und der Bibel vermehren die objektivierbaren Elemente einer Wahrheitssuche.

In dem hier diskutierten Ansatz ist also der subjektive Grad der Verpflichtung gegenüber wahrer Religion vor Gott nicht äußerlich formalisierbar, sondern eine Frage der aktuellen Wissens- und Erkenntnisfähigkeitsstruktur eines Individuums.[24] Dennoch ist es aus praktisch-pragmatischen Gründen weiterhin sinnvoll formale Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft zu formulieren und z. B. bei rechtlichen Fragen ein von äußeren Merkmalen und Sprechakten abhängig gemachtes Vorgehen beizubehalten. Was hier neu hinzukommt ist die Erkenntnisstruktur des Individuums – die Theologie im weiteren Sinn muss hierzu nicht erst neu geschrieben oder experimentell erweitert werden. Sie muss aber ihre bereits vorhandenen Konzepte der Subjektivität von Erkenntnis in einem viel radikaleren Sinn denken.

Der folgende Abschnitt soll zeigen, wie man einen solchen erkenntnistheoretischen Ansatz auch koranisch fundieren kann. Ein erster pragmatischer Schritt dazu ist es zwischen der prophetischen Zeit zu den Lebzeiten Muhammads während des aktiven koranischen Diskurses[25] und der nachprophetischen Zeit an Orten und zu Zeiten fernab seines Wirkens zu unterscheiden. Mir scheint, dass hier zwei erkenntnistheoretisch sehr unterschiedliche Situationen vorliegen, aus denen auch unterschiedliche Verbindlichkeitsstrukturen und Wahrheitszugänglichkeitswahrscheinlichkeiten resultieren. Diese verändern nicht die Struktur islamischen Glaubens und Lebens, aber sie reduzieren die scharfe Unterscheidbarkeit zwischen bewusst am Islam Festhaltenden (den „Gläubigen“ des Korans) und bewusst den Islam ablehnenden (den „Ungläubigen“ des Korans), von der der Koran aufgrund seiner historischen Verortung im Diskurs des real vorhandenen Propheten überwiegend ausgeht.

Aufgrund der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes wiederum resultiert daraus für unsere nachprophetische Zeit die Möglichkeit eines erkenntnistheoretisch begründeten Heilsinklusivismus, der das Heil nicht mehr nur von der formalen Zugehörigkeit zum Islam abhängig macht, sondern mindestens so sehr von der individuellen Absicht und dem Bemühen eines Individuums die Wahrheit zu finden bzw. das Wohlgefallen Gottes zu erlangen, unabhängig davon, wo dieser sich religiös aktuell befindet. Hier ist es aufgrund der erschwerten Beweismöglichkeiten nicht mehr entscheidend die Wahrheit gefunden zu haben, sondern nach Wahrheit zu streben. Hier ist es weniger der äußerliche Erfolg, als vielmehr die innere Absicht, auf die es vor Gott ankommt. Die Einladung des Islam ist auch hier weiterhin an alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gerichtet – aber eine Nichtannahme dieser Einladung kann aus den genannten erkenntnistheoretischen Gründen nicht mehr mit Sicherheit einem kufr, d. h. einer bewussten Ablehnung offensichtlicher religiöser Wahrheit zugeschrieben werden, der mit Sicherheit zur Verdammung im Jenseits führen würde. Ein weiterer fruchtbarer Aspekt dieses erkenntnistheoretischen Zugangs ist, dass er vereinbar mit einer großen Anzahl von Theologien ist, also auch über den Islam hinaus vertreten werden kann. Überhaupt handelt es sich hier um einen apriorischen Inklusivismus der guten Absicht bei gleichzeitig eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten, während Ateşs Modell einen an festen äußeren Kriterien festgemachten aposteriorischen Inklusivismus darstellt.

3.3) Koranische Basis des erkenntnistheoretisch begründeten Inklusivismus

Der Koran beschreibt in Versen wie denen aus der obigen Versgruppe 5, dass eine Ablehnung der Botschaft des Propheten Muhammad gleichbedeutend mit kufr im Sinne einer im Jenseits verdammungswürdigen Ablehnung von Wahrheit, also Leugnung und Unglaube ist. Jedoch haben wir uns bei der Analyse dieser Verse sowie jener aus den anderen Versgruppen nur auf die kategorischen Aussagen des Korans konzentriert und die dabei explizit oder implizit unterstellten Bedingungsstrukturen der Situationen, unter denen die Verse urteilen, ignoriert. Wir werden im Folgenden zeigen, dass der Koran neben Aussagen über die Verpflichtungen auf eine bestimmte Religion auch Begründungen für diese Verpflichtungen nennt, die stets etwas mit dem Vorwissen, den Erwartungen und den Erkenntnismöglichkeiten der Erstadressaten zu tun haben. Die epistemischen Voraussetzungen dieser Begründungen sind bei den Zweitadressaten der nachprophetischen Zeit jedoch oftmals nicht oder nur teilweise gegeben, sodass diese Begründungen hier entweder bedeutungslos werden, oder die logische Struktur von Bedingungen annehmen, d. h wenn bei einem Zweitadressaten die Argumentationsbedingungen erfüllt sind, dann erwächst daraus eine Verpflichtung vor Gott, wie der Koran sie ableitet. Diese Bedingungen sind wissensbezogene, d. h. epistemische Voraussetzungen beim Gegenüber, aus denen der koranische Diskurs eine erhöhte Wahrscheinlichkeit in die Einsehbarkeit der Wahrheit des Korans ableitet. Diese epistemischen Voraussetzungen werden vom Koran bei den Erstadressaten in der Regel als gegeben vorausgesetzt. In diesem Modell von der Hintergrundsituation des koranischen Diskurses erscheint die scharfe Trennung zwischen Glauben und Unglaube, die der Koran oft vornimmt, konsequent.

Es ist jedoch ein Leichtes zu zeigen, dass die meisten dieser epistemischen Voraussetzungen in der nachprophetischen nicht mehr als Regelfall vorausgesetzt werden können. Dies festzustellen ändert nichts am Wahrheitsgehalt und der Botschaft des Korans und seiner Universalität, sehr wohl aber an der Konstanz von Qualität und Quantität der unmittelbaren Verbindlichkeit des Korans für potenzielle Zweitadressaten vor Gott. Denn es ist der Koran selbst, der das für den erkenntnistheoretischen Inklusivismus entscheidende Prinzip formuliert:

Gott erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag.“ (2:286)

Erkenntnistheoretisch könnte man das formulieren als: Gott fordert von keiner Seele Entscheidungen für eine Sache, deren Richtigkeit sie nicht pragmatisch hinreichend erkennen konnte.[26] Hier tritt also neben dem normativen Wahrheitsgehalt der Offenbarung und der Existenz von potenziellen Adressaten noch die epistemische Voraussetzungsstruktur dieser Adressaten als drittes Situation definierendes Moment ins Spiel – verbunden mit der Annahme des gerechten Gottes und des Prinzips aus 2:286 resultiert daraus umgehend, dass wir nicht kategorisch von jedem Menschen aussagen können, inwieweit dieser im Jenseits von Gott auf den Koran verpflichtet werden wird, obwohl die Einladung des Korans nicht auf Raum und Zeit eingeschränkt ist.[27] In diesem Diskursmodell ist dabei nicht die Quantität eines bloßen Bescheidwissens über koranische Inhalte entscheidend, wie in der klassisch-islamischen Literatur oft als Bedingung gefordert wird, sondern das Maß der zu erwartenden Passung zwischen dem koranischen Überzeugungspotenzial und der potenziellen Verstehensstruktur des Adressaten, aus der erst so etwas wie ein authentischer Überzeugungsprozess resultieren kann.

Hierbei übergehen wir systematisch Momente der Intuition, Inspiration und göttlichen Fügung, aber auch der nicht authentischen Zusprache wie Zwang, da wir hier aufgrund unseres theoretischen Interesses nach den systematisch zugänglichen und theoretisierbaren Aspekten fragen.

Unter dieser Bedingung können wir auf koranischer Basis eine unmittelbare Verpflichtung für die islamische Botschaft vor Gott nur für den typischen Erstadressaten des Korans pauschal behaupten, jedoch nur bedingt für den Zweitadressaten der nachprophetischen Zeit, da deren Erkenntnisvoraussetzungen sich dramatisch von denen der Erstadressaten unterscheiden können. Ferner haben die Zweitadressaten diese anderen Erkenntnisvoraussetzungen nicht ausgesucht, sodass dass die nicht immer gegebene Passung von den Diskursbedingungen der koranischen Rede und der existenziellen epistemischen Positionalität der Zweitadressaten apriori diesen angelastet werden kann. Eine wichtige und ebenfalls koranisch begründete Ausnahme von dieser entschuldbaren Diskrepanz bilden selbstständig erworbene Charaktereigenschaften wie Überheblichkeit und Neid, die den Zugang zum Offenbarungsdiskurs prinzipiell blockieren können (7:146, 2:89-90).

Im Folgenden sollen nun einige epistemische Dimensionen anhand exemplarischer Koranpassagen vorgestellt werden, die eine apriorische Unterscheidbarkeit zwischen dem Verpflichtungsgrad von Erst- und Zweitadressaten des Korans rechtfertigen.

3.3.1) Je mehr Klarheit, umso mehr Verpflichtung

  • Wer nach Herabsendung des (von den Jüngern Jesu erwünschten) Tischwunders ungläubig wird, denn wird Gott strafen wie sonst niemanden (5:114-115)
  • Wenn Engel gekommen wären, bliebe weniger Zeit zur Umkehr (6:8)
  • Wenn Gottes Zeichen ihnen als klare Beweise verlesen werden, sagen sie nur „er will euch von dem abhalten, dem eure Väter dienten“ (34:43)

Diese Verse können so verstanden werden, dass mit zunehmender Klarheit von Zeichen und Wundern auch die Verbindlichkeit ihrer Anerkennungsforderungen zunimmt. Wenn Engel statt Menschen als Boten erschienen wären, hätte dies einen überwältigenderen Charakter. Ebenso sind Zeugen von Wundern erkenntnistheoretisch in einer ausgezeichneteren Position als jene, die die physikalische Welt nur eine als invariant empfundenen Naturgesetzlichkeit erfahren konnten. Dies ist in bestem Einklang mit unserer erkenntnistheoretischen Lesart des Verses „Gott erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag.“ (2:286). Die vom Koran selbst behauptete Klarheit seiner selbst wiederum, oder das seine Zeichen als „klare Beweise“ begriffen werden können, betrifft mit Gewissheit vor allem seine Erstadressaten, denen der koranische Diskurs sprachlich, stilistisch, pragmatisch und inhaltlich wesentlich klarer gewesen sein muss als einem Zweitadressaten im 21. Jahrhundert.

Nun gibt es laut Koran natürlich nicht nur im Koran oder in den Wundern der Propheten, sondern wesentlich dichter auch in der Natur Zeichen Gottes, d. h. āyāt (vgl. z. B. 21:32) – da deren Erkennbarkeit einer anderen epistemischen und pragmatischen Struktur unterliegt, sollen diese in unserer Diskussion nicht mit den koranischen Versen und Wundern vermengt werden.

3.3.2) Verpflichtung und Straffähigkeit setzt erkennbaren Gesandten voraus

  • Dein Herr vernichtet keine Städte, eher ihre Bewohner nicht gewarnt werden. (6:131)
  • Wir strafen nicht, eher wir einen Gesandten geschickt haben (17:15)
  • Zu euch ist nun ein deutlicher Beweis und ein offenes Licht gekommen, darum glaubt daran (4:175)
  • Gott sandte jeden Gesandten in der Sprache seines Volkes, damit er ihm die Botschaft klar macht (14:4)
  • Wir haben es als einen arabischen Koran hinabgesandt, auf dass ihr begreifen möget. (12:2)

Laut diesen Aussagen straft Gott im Diesseits oder Jenseits nicht eher ein Warner im Namen Gottes aufgetreten ist. Dieser Warner tritt nicht dunkel und abstrakt auf, sondern auf mit „deutlichen Beweisen“ (also auch Wundern) und als „offenes Licht“ (4:175) und jeweils in jener Sprache bzw. mit jenem Zeichensystem, das dem Volk, in dem er wirkt, am angemessensten ist. Erst diese Passung legitimiert aus koranischer Sicht eine anschließende Strafe Gottes bei Ungehorsam. Die Begreifbarkeit des Korans aufgrund seiner arabischen Sprache (14:4, 12:2) kann vollumfänglich sicher für arabische Muttersprachler im historisch-kulturellen Umfeld des Propheten behauptet werden, wird aber mit zunehmendem örtlichen, zeitlichen und kulturellen Abstand zur Offenbarungszeit an Klarheit verlieren müssen. Dies ist sicher ein universelles Phänomen von normativen Sprachbotschaften, zu dessen Aufarbeitung klassische Theologie alleine nicht ausreicht. Eine solche Sichtweise negiert nicht die Universalität der muhammadanischen Sendung, aber verdeutlicht, dass es erkenntnistheoretisch legitim ist zwischen den direkten Erstadressaten des Korans und den Zweitadressaten der nachprophetischen Zeit zu unterscheiden.

3.3.3) Die Gegenwart von Propheten hat verpflichtenden Charakter

  • Wie könnt ihr ungläubig werden, wo der Gesandte Gottes doch unter euch ist? (3:101)
  • Im Jenseits werden die Leugner gefragt: Kamen nicht Gesandte aus eurer Mitte?  (6:130)
  • In jedem Volk erweckten wir einen Gesandten, der sagte: dient Allah und meidet die Götzen (16:36)

In diesen Versen wird die Verbindlichkeit der islamischen Botschaft wesentlich über die Präsenz und das Wirken des Propheten Muhammad konstituiert. Wo er präsent ist, besitzt die islamische Botschaft demnach ein besondere Überzeugungskraft, wie es in den Konversionsgeschichten zahlreicher Prophetengefährten bezeugt ist. Die Anwesenheit des Propheten ist ein Privileg der Erstadressaten, nicht zuletzt aufgrund der angenommenen Einheit von Person und Lehre. Diese Einheit, das prophetische Charisma und der nachhaltige Ruf des Propheten als „der Vertrauenswürdige“ (al-Amīn) lassen sich später durch Berichte und Erzählungen nie in derselben Qualität erfahren, wie es bei den Erstadressaten der Fall war. Und wenn der Koran den Propheten als „lichtspende Leuchte“ bezeichnet (33:46), oder bezeugt: „Der Prophet steht den Gläubigen näher als sie sich selbst“ (33:6), dann ist dies mehr als eine dogmatische Setzung – nämlich ein Hinweis darauf, in welchem intensiven persönlichen Verhältnis Muhammad zu seiner Umma stand.

3.3.4) Annahme der klaren Beweisbarkeit der Wahrheit des Korans

  • Bringt doch mit den Dschinn ein dem Koran Gleiches hervor, wenn ihr könnt! (17:88)
  • Bringt doch zehn Suren wie die des Korans hervor! (11:13)
  • Bringt doch eine Sure wie im Koran hervor! (10:38)
  • Wenn ihr im Zweifel über den Koran seid, dann bringt doch eine Sure von seiner Art hervor – aber ihr werdet es nicht schaffen, darum fürchtet das Feuer! (2:23-24)

Die sprachliche Unnachahmlichkeit des Korans ist laut vielen klassischen Islamgelehrten das größte Beglaubigungswunder des Propheten. Jedoch ist gerade dieses wichtige Wunder heute kaum jemandem, der nicht in den Feinheiten der arabischen Sprache und Literatur bewandert ist, zugänglich. Da der Koran zur Offenbarungszeit aber, wie man an obigen Versen sehen kann, aufgrund seiner sprachlichen Passung offensiv für seinen göttlichen Ursprung werben konnte, war damals auch der Verpflichtungscharakter für seine ersten Adressaten ein anderer als hier und heute, die wir weit davon entfernt sind uns dermaßen vom ästhetischen Charakter des Korans mitreißen zu lassen. Selbstverständlich ist es denkbar, dass es auch andere Wunderebenen des Korans gibt – diese bedürfen jedoch nicht minder einer gründlichen Erarbeitung und sind ebenfalls nicht für jeden Menschen gleichermaßen zugänglich und offensichtlich.

3.3.5) Unglaube als kategorische Weigerung selbst bei Wundern zu glauben

  • Sie wollen Wunder – doch woher weißt du, dass sie mit Wundern glauben würden? (6:109).
  • Erste Leugnung kann blind für Wunder machen (6:110)
  • Auch, wenn sie Engel oder wiederauferstehende Tote sehen würden, würden sie nicht glauben (6:111)
  • Bei denen, die geleugnet haben (allaḏīna kafarū) ist es gleichgültig, ob du sie warnst, oder nicht. Versiegelt sind die Herzen, schwere Strafe erwartet sie (2:6-7)
  • Wenn ihr Leugnenden wahrhaftig seid, warum haben dann Leugner wie ihr schon früher schon Propheten getötet? (3:183)

Diese Stellen weisen auf ein Kriterium von Leugnung bzw. Unglaube im Sinn von kufr hin, das nicht in der konkreten Religionszugehörigkeit, sondern in der prinzipiellen fehlenden Offenheit gegenüber Wundern bzw. der Stimme der Offenbarung liegt. Echter Unglaube liegt demnach vor allem dann vor, wenn eine Person selbst bei offensichtlichen Wundern nicht glauben würde. Im Umkehrschluss kann daher gefolgert werden, dass jemand, der sich nur aufgrund von ausbleibenden Wundern bzw. ausbleibender überzeugender Argumente nicht auf eine im Ursprung göttliche Botschaft einlässt, entschuldigt ist, und zumindest vor dem Antlitz Gottes nicht als Ungläubiger gebrandmarkt sein muss. Für diese Sichtweise spricht auch die koranische Beschreibung derjenigen, die sich auf den kufr festgelegt haben, als jene, die nie glauben werden, gleichgültig, ob sie vom Propheten gewarnt werden, oder nicht (2:6-7). Wenn der Islam alle nicht umgehend konvertierenden Nichtmuslime als derart unerreichbare und kategorische Leugner im eben dargestellten Sinne (also nach 2:6-7) ansehen würde, dann wäre der prophetische Auftrag der Verkündung de facto sinnlos, oder gar koranwidrig gewesen. Daher ist ganz im Sinne von Ġazālī theologisch von einer zunächst nicht festlegbaren Bedenk- und Forschungszeit auszugehen, während der der aufrichtig Suchende auch in einem klassisch-islamischen Verständnis vor Gott entschuldigt wäre. Wichtig ist hier nicht die Dauer und der aktuelle Stand einer solchen Forschung, sondern dass überhaupt die Bereitschaft besteht zu glauben, „wenn Wunder gesehen werden“ (sinngemäß 6:109). Und ob diese Bereitschaft vorliegt, kann alleine Gott wissen, da sie eine Disposition im persönlichen Forum Internum darstellt.

Diese Betrachtung macht es auch notwendig zwischen den zwei idealtypischen Kategorien von Gläubigen und Ungläubigen noch eine dritte der Unbestimmten einzuführen, die gerade den aktuellen oder potenziellen Wahrheitssuchern Ġazālīs entsprechen. Der Koran schließt die Kategorie der Unbestimmten nicht aus – sie entsprechen epistemisch im Wesentlichen den Menschen der Zeit zwischen den Propheten, in der die Botschaft Gottes an Klarheit eingebüßt hat. Im Grunde weist die heute geläufige Unterscheidung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen schon in diese Richtung, da sie noch kein theologisches Urteil über Nichtmuslime impliziert.

3.3.6) Unglaube als Leugnung trotz besseren Wissens

  • (O ihr Juden,) verbergt nicht die Wahrheit wider Wissen (2:42)
  • Ein Teil (des Volkes der Schrift) von ihnen hat Gottes Wort vernommen, verstanden und wissentlich verdreht (2:75)
  • Leugnung als Verletzung von getroffenem Abkommen mit Gott (2:83)
  • Als das, was sie schon kannten, zu ihnen kam, leugneten sie es (2:89-90)
  • Die, denen wir die Schrift gaben, und die sie richtig lesen, glauben an sie (die Rechtleitung des Koran) (2:121)

Demnach gibt es eine Form von Unglauben, bei der der Adressat um die Wahrheit der Botschaft weiß, aber sie trotzdem – aus welchen Gründen auch immer – ablehnt. Wenn der Koran von Unglaube bei seinen Erstadressaten spricht, dann meint er an zahlreichen Stellen eben eine solche Haltung. Es ist also eine strukturelle und bewusst in Kauf genommene epistemische Inkohärenz auf Seiten der Leugner, die hier Ausdruck von Unglaube ist. Im Umkehrschluss heißt das, dass eine Ablehnung des Korans auf der Basis von fehlendem Wissen vor Gott entschuldigt sein kann. Worin das auf den Koran verpflichtende Wissen bestehen könnte, lässt sich nicht kanonisch festlegen. In jedem Fall muss es den Charakter einer Evidenz von Wahrheit besitzen. Ein Beispiel dafür hatten wir in der koranischen Annahme gesehen, dass das Volk der Schrift mental auf die Prophetenschaft Muhammads vorbereitet war, aber sie dann zurückwies, so wie auch frühere Propheten zurückgewiesen wurden. In jedem Fall zeigt sich, dass es zu kurz greifen würde Unglaube alleine als die „falsche“ formale Religionszugehörigkeit zu definieren. Es ist eine der Wahrheitsidee gegenüber offene, ehrliche und bescheidene Haltung, die laut Koran die Voraussetzung für eine Einsicht in die prophetische Wahrheit darstellt. Jedoch ist denkbar, dass es trotz dieser glaubensrelevanten Haltungen andere unverschuldete Hindernisse gibt die Wahrheit einer bestimmten Religion anzuerkennen, was dann vor Gott entschuldigt wäre.

3.3.7) Annahme von Wissen um Muhammad beim Volk der Schrift

  • Das Volk der Schrift kennt ihn (den Koran oder den Propheten) so wie sie ihre Söhne kennen (6:20)
  • Das Volk der Schrift weiß, dass es die Wahrheit von ihrem Herrn ist (6:114)
  • Das Volk der Schrift kennt ihn (den Koran? Den Propheten?), wie sie ihre Söhne kennen; ein Teil von ihnen verbirgt die Wahrheit (2:146)
  • Jesus prophezeite das Kommen eines Gesandten, der Ahmad heißt; als dieser jedoch mit deutlichen Beweisen kam, sagten sie: „deutlicher Zauber!“ (61:6)
  • Zu euch kommt nun unser Gesandter, damit ihr nicht sagt „zu uns kam kein Bote und Warner“ (5:19)

Diese Verse, die sich vor allem auf die Schriftbesitzer beziehen, sagen aus, dass der Koran davon ausgeht, dass die Erstadressaten des Propheten mit seiner Prophetenschaft rechneten und auch über ein Wissen um die Wahrheit des Korans verfügen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Verse der Gruppe 5, die das Volk der Schrift auf den Koran verpflichten, in einem neuen Lichte: Das Volk der Schrift, das zumindest zum Teil das Auftreten eines neuen Propheten erwartete, steht gegenüber der neuen Botschaft in einem besonderen Verpflichtungsverhältnis zur Anerkennung des Propheten als andere, die gar nicht erst in die Situation kommen können den Propheten zu kennen, „wie sie ihre Söhne kennen“ (6:20).

Dieser Gedanke wirft auch ein anderes Licht auf berühmte Hadithe, laut denen Juden und Christen, die den Namen des Propheten gehört haben und nicht an ihn glauben, im Jenseits verdammt sind. Eindrücklich zeigt sich dies auch in folgendem Dokument, das als Brief des Propheten an die Juden der Siedlung von Ḫaybar im ersten Jahr nach der Hedschra überliefert ist. Demnach richtet sich der Prophet mit der Nachricht an die Juden, dass der Prophet alles, was Moses lehrte, bestätigt, und weist auf die koranische Aussage hin, dass die Sendung Muhammads bereits in den Schriften der Juden prophezeit sei. Anschließend verkündet der Prophet:

Sagt mir zu Ehren Gottes, zu Ehren dessen, was euch geoffenbart wurde […] Ist in dem Buch [der Thora], das Allah euch geoffenbart hat, nicht verzeichnet, ob ihr an Muhammad glauben müsst, oder nicht? Wenn dies nicht so ist, dann teilt mir das mit. Wenn ihr in eurem Buch diesen Hinweis nicht findet, dann werdet ihr keinen Zwang erfahren. Der falsche und der wahre Weg sind voneinander wahrlich unterschieden worden. Ich lade euch ein zum Weg Allahs und seines Gesandten.[28]

Ferner heißt es in einer anderen Überlieferung, dass der Prophet auf Marktplatz in Medina zu den Juden sprach:

Ihr wisst, dass ich einer der von Allah entsandten Propheten bin. Ihr lest auch in eurem Buch, dass dies so ist. Damit hat Allah euch verpflichtet.[29]

Hier geht es uns weniger um die (nicht minder interessante) Frage, welche Juden genau eine vergleichbare Erwartung hegten, die in Passung zur Sendung Muhammads stand. Interessanter ist für uns, dass der koranische Diskurs und die Vehemenz seiner Forderung nach Anerkennung vor dem Hintergrund solcher epistemischer Annahmen über seine ersten Adressaten steht. Juden und Christen, die traditionell oder theologisch bedingt keine derartige Erwartungshaltung zeigen, stünden nach unserem Ansatz gegenüber dieser Forderung in einer schwächeren epistemischen Position, sodass diese nicht als gleichwertige direkte Adressaten der Verse aus der Gruppe 5 mitsamt Verdammungsankündigung bei Ablehnung verstanden werden müssten wie etwa bestimmte Juden von Medina, die laut den Quellen auf die Sendung des Propheten Muhammad eingestellt waren.[30]

3.4) Weitere Hinweise auf konfessionsunabhängigen Unglauben

Neben den oben dargestellten epistemischen Dimensionen des koranischen Verkündungsdiskurses gibt es im Koran noch einige allgemeinere Thematisierungen der Leugnung des Islams, die die Ebene der Absicht betreffen. Da dies epistemische Aspekte beinhaltet, doch zugleich auch darüber hinausweist, sind diese hier separat dargestellt.  

3.4.1) Unglaube als Leugnung aus Hochmut

  • Wer auf der Erde zu Unrecht in Hochmut waltet, den wird Gott von seinen Zeichen abwenden. Gleichgültig, welches Zeichen sie sehen, sie können daran nicht glauben. (7:146)
  • Die Leugner erhalten im Jenseits ihre Strafe, weil sie Gottes Zeichen voller Hochmut verschmähten (wa kuntum ʿan āyātihī tastakbirūn) (6:93)
  • Sie sagen: Wir glauben an deine Offenbarung, wenn wir auch eine erhalten (6:124).

Diese Verse gehen davon aus, dass es eine Haltung der Arroganz und Hochmut gibt, die blind und taub gegenüber der göttlichen Botschaft mit seiner Forderung der Selbstrücknahme machen kann. Nicht jede Distanz zum Islam muss mit einer solchen Haltung einhergehen.

3.4.2) Unglaube als Leugnung aus Neid

  • Als das, was sie schon kannten, zu ihnen kam, leugneten sie es; sie leugneten aus Neid, weil Allah seine Huld offenbart, wem er will (2:89-90)
  • Nachdem die Wahrheit ihnen deutlich geworden war, wollten sie aus Neid, dass ihr Ungläubige werdet (2:109)

Neid als Motiv für eine Ablehnung der Botschaft des Propheten kann sich auch auf Phänomene der Stammesloyalität beziehen, wie es stellenweise überliefert ist. Demnach lehnten manche Araber seine Botschaft ab, weil Muhammad nicht zu ihrem Clan gehörte.

3.5) Adressatenorientiertes Kohärenzideal der koranischen Argumentation

Wir haben bisher für eine kohärentistische Betrachtungsweise der Verpflichtungsstruktur der koranischen Adressaten argumentiert, unter der Annahme, dass die epistemische Voraussetzungsstruktur des konkreten (Zweit-)Adressaten des Korans neben dem koranischen Offenbarungsanspruch und der bloßen Existenz von Adressaten die dritte Säule der Verpflichtungsfrage auf den Islam ausmacht. Es gibt neben der hier betrachteten epistemischen Ebene noch eine inhaltliche, auf der der Koran auch eine bemerkenswerte Neigung zur Stiftung von Kohärenz zeigt, hier jedoch primär im Kontext der Erstadressaten:

(a)       Der Sprachstil und die Reimstruktur des Korans vor allem in der mekkanischen Phase geht auf den hohen Stellenwert der Dichtung bei den vorislamischen Arabern ein. Der Koran greift ein zentrales Element von deren kulturellem Selbstverständnis auf und reiht sich somit in deren Sprach- und Denkwelt ein, aus der heraus er versucht seine theologischen Zwecke zu erreichen.

(b)       Die Verpflichtung der Juden und Christen auf die Offenbarung des Korans bzw. seine Reformimpulse begründet der Koran unter Berufung auf Abraham, dessen Religion die maßgebliche für Juden, Christen und Muslime sei. Insofern versucht der Koran sich selbst als Rückführung aller Religionen auf ihre eigene Wurzel auszuzeichnen, was nichts anderes ist, als ein Kohärenzargument.

(c)       Überraschenderweise argumentiert der Koran im Kontext der arabischen Götzendiener ähnlich: Der Koran ist eine Erneuerung des abrahamischen Erbes der Araber, eine radikale Rückführung der Araber auf ihre eigenen Wurzeln. Der Übertritt zum Islam ist keine Entfremdung von ihrer Identität, sondern ein Zurückgewinn von vergessener Wahrheit. Denn Abraham ist laut Koran nicht nur die Leitfigur der zugleich neuen und alten Religion, sondern auch der genealogische Ahne der mekkanischen Götzendiener: „Dies ist die Glaubensrichtung eures Vaters Abraham. Allah hat euch Muslime genannt, früher und in diesem Buch. Darum verrichtet das Gebet und entrichtet die Abgabe.“ (22:78).

(d)       Bei den im Koran namentlich genannten Propheten handelt es sich ausschließlich um Propheten, die den Erstadressaten ein Begriff waren, oder zumindest potenziell sein konnten. Aus islamisch-theologischer Perspektive hat dies nicht nur pädagogische, sondern auch theologische Gründe, nämlich die besondere Auszeichnung von Propheten wie Abraham, aber auch Moses und Jesus. Dennoch ist es auffällig, dass der Koran zur Verdeutlichung seiner Botschaft lieber wiederholt und stereotypisch von wenigen Propheten berichtet hat, statt gänzlich neue Figuren einzuführen. Gleichzeitig vernachlässigt es der Koran nicht darauf hinzuweisen, dass es womöglich unvorstellbar viel mehr Propheten außerhalb des bekannten semitischen Kontextes gibt. So hätte jedes Volk der Welt einen Gesandten erhalten (16:36). Von einigen berichtete der Koran dem Propheten, von anderen wiederum nicht (40:78). Die epistemische Offenheit dieser Art von Heilsgeschichte gewinnt kosmologische Dimensionen, wenn man mit dem Koranexegeten ar-Rāzī (gest. 1209) in seinem monumentalen Korankommentar Mafātīḥ al-Ġayb den Vers „Aller Preis gebührt Allāh, dem Herrn der Welten“ (1:2) so liest, dass dieser auf die Möglichkeit der Existenz von „tausend mal tausend“ weiterer Welten wie unserer deutet, die alle ihre eigene Erde, ihren eigenen Himmel und ihre eigenen himmlischen Sphären hätten. Er folgert diese Möglichkeit aus der Allmacht Gottes und dem Hinweis aus 1:2, dass Allah der Herr der Welten sei. Eine neue theologische Dimension gewinnt diese Perspektive, wenn man beispielsweise schiitische Quellen wie Ibn Bābawayhs (gest. 991 n. Chr.) Kitāb al-Ḫiṣāl in dessen letztem Hadith die Rede davon ist, dass es vor dem Adam unserer Erdgeschichte tausend mal tausend andere Adams gegeben hat.

4) Fazit und Ausblick

Wir haben in dieser Studie exemplarisch einen substanziell begründeten Inklusivismus vorgestellt und vor dem Hintergrund von inklusivistisch und exklusivistisch formulierten Koranpassagen kritisch diskutiert. Dabei haben wir gesehen, dass ein solcher Inklusvisimus einer Reihe von in der Tradition wenig beachteten Koranversen neue Geltung verschaffen kann, die dabei jedoch bei Absolutsetzung in Spannung zu jenen Versen geraten können, die auch bei substanziell-inklusivistischen Szenarien eine Anerkennung der Sendung Muhammads fordern. Am Beispiel des Modells von Süleyman Ateş haben wir gezeigt, dass eine Ausharmonierung prinzipiell möglich ist, jedoch zu anderen Schwierigkeiten führt, etwa was die Bestimmung von aus islamisch-theologischer Sicht authentischen Elementen in Glaube und Praxis der aktuellen Schriftreligionen betrifft.

Diesen Modellen haben wir einen bereits bei Ġazālī angedeuteten erkenntnistheoretischen Ansatz gegenübergegengestellt, der auf eine genaue Klassifikation inklusiv denkbarer Theologien außerhalb des Islam verzichtet und stattdessen im Sinne des Koranverses „Gott erlegt keiner Seele eine Last auf, die sie nicht tragen kann“ (2:286) den Grad der Verpflichtung eines Individuums auf den Koran vor Gott von seiner individuellen Wissensstruktur abhängig macht, und davon, wie plausibel und evident aus dieser Perspektive die Wahrheit der Sendung Muhammads erscheint.

In diesem Zusammenhang hat sich eine Unterscheidung zwischen den Erstadressaten der prophetischen Zeit und den wesentlich späteren Zweitadressaten in der nachprophetischen Zeit als fruchtbar erwiesen, die zudem auch räumlich und kulturell in großer Distanz zur Offenbarungszeit stehen können. Diese Distanzen bringen eine epistemische Struktur mit sich, die sich von der der Erstadressaten des Korans, von der der Koran offensichtlich  ausgeht, unterscheidet. Eine Analyse des koranischen Diskursstruktur weist eine Reihe von Dimensionen in der Wissens- und Erwartungsstruktur der Erstadressaten hin, die diese im Unterschied zu den Zweitadressaten in eine eindeutig vorteilhaftere Position hinsichtlich einer objektiven Nachvollziehbarkeit der Authentizität und Wahrheit der Sendung Muhammads bringen.

Hier wurde auf koranimmanenter Basis und unter erkenntnistheoretischer Reflexion eine Reihe von Argumenten dafür erarbeitet, dass in der nachprophetischen Zeit die fehlende Zugehörigkeit zum Islam – auch bei Kenntnis islamischer Glaubensinhalte – alleine nicht ausreicht, um daraus schon kategorisch auf den Unglauben eines Individuums im Sinne des koranischen kufr zu schließen. Darum scheint es sinnvoll Glaube und Unglaube im Koran als idealtypische Kategorien aufzufassen, die in der Lebenspraxis der Zweitadressaten des Korans um die pragmatische Dimension der (aus der Perspektive äußerer Beobachter) theologisch Unbestimmten erweitert gedacht werden muss, was eine Fülle an Haltungen und Profilen umfasst und dabei die reale Möglichkeit des individuellen Heils ausdrücklich mit einschließt. Eine koranische Analogie zu dieser Gruppe stellen die Menschen in der Übergangszeit zwischen zwei Propheten dar, in der die letzte prophetische Botschaft zunehmend dem Vergessen und Verblassen anheimfällt. Dies führt in unserem Fall nicht zu einer Rücknahme der theologischen Substanz des Islams, sondern zu einem Eingeständnis in die radikale Pfadabhängigkeit eines jeden Erkenntnisprozesses. Potenzielle Erkenntnisprozesse sind geraden bei den weit nachprophetischen zeitgenössischen Zweitadressaten des Korans nicht mit den Erkenntnisbahnen zu Zeiten der Erstadressaten vergleichbar.

Der substanziell begründete islamische Inklusivismus hatte das Problem, dass er die Kategorie der aktuellen authentischen Schriftreligion bei gleichzeitiger Ablehnung einiger zentraler Dogmen derselben einführen musste. Im erkenntnistheoretischen Ansatz bedarf es nicht einer systematischen Festlegung, da es hier primär auf die Absicht der Wahrheitsfindung und die interne epistemische Kohärenz des individuellen Wahrheitssuchers ankommt. In einem für unser Thema bedeutsamen Hadith heißt es hierzu bestätigend: „Die Handlungen [bemessen sich] nur nach den Intentionen und jedermann kommt nur das zu, was seinen Intentionen entspricht.“[31]

Andererseits – und dies ist ein Aspekt den wir hier nicht vertieft haben – bedeutet dies nicht, dass aus der Sicht eines solchen islamischen Inklusivismus ein nichtmuslimischer Zweitadressat keine Rechenschaft vor Allah ablegen müsste. Zumindest ethische Verantwortung, die Bereitschaft zur Selbstzurücknahme und ein Mindestmaß an Offenheit gegenüber Gottes- und Sinnfragen wird auch bei einer nicht koranaffinen epistemischen Struktur nicht aufzugeben sein. Alles, was die individuelle Verpflichtung vor Gott auf den spezifisch islamischen Bereich angeht, muss jedoch aus den hier dargestellten Gründen islamisch-theologisch primär als eine Frage zwischen Gott und dem Individuum gelten, wobei das Angebot und die Einladung des Islam weiterhin unverändert bestehen bleiben.

Ebenso bestehen bleibt aber auch die Verantwortung der Muslime der prophetischen Rolle als „Barmherzigkeit für die Welten“ (21:107) Gestalt zu geben, selbstverständlich auch ohne die Aussicht, dass die Menschen sich eines Tages in einer gemeinsamen Religion treffen. Denn

wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so,) damit Er euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.“ (5:48)

An dieser Stelle soll noch auf die nun denkbare Möglichkeit hingewiesen werden, dass sich die beiden inklusivistischen Ansätze auch ergänzen können. So ist es denkbar die fünf Versgruppen auch hinsichtlich ihrer epistemischen Voraussetzungen zu befragen. Man kommt hinsichtlich des Volkes der Schrift dann umgehend zum Ergebnis, dass die exklusivistische Versgruppe 5 zugleich gemäß unserer Diskussion in 3.3.7 die höchsten epistemischen Voraussetzungen hat. Vielleicht kann man daraus folgern, dass die Verpflichtung der Juden und Christen auf den Propheten vor allem jene betrifft, die gemäß des koranischen Diskurses in gewisser Weise ein Wissen vom Kommen des Propheten hatten. Dies wäre eine Spezifizierung (taḫṣīṣ) der Versgruppe 5 nach dem individuell unterschiedlichen Kriterium des „Vorwissens um die Prophetenschaft Muhammads“. Epistemisch am universellsten wären hingegen die mekkanischen Beschreibungen des wahren Glaubens als eine direkte Zurückführung auf die Natur des Menschen (30:30-32). Jede Glaubensgemeinschaft hätte hier einen eigenen epistemisch naheliegenden Weg sich der Wahrheit anzunähern. Dies sind jedoch spekulative Ideen, die einer ausführlichen theologischen Diskussion und Kritik bedürfen.

Und was wäre schließlich mit jenen, die aus koranischer Sicht absichtlich die abrahamische Wurzel der Offenbarungsreligionen verlassen oder gar verfälscht hätten? Sind sie laut zahlreichen koranischen Aussagen im Jenseits nicht am weitesten von einer Aussicht auf die Barmherzigkeit Allahs entfernt? Es ist bemerkenswerterweise ausgerechnet Jesus selbst, den der Koran in seiner spätesten Jesus-Passage im Jenseits über bestimmte Kreise seiner Anhänger, die ihn „und seine Mutter zu Göttern neben Allah“ machten (5:116) folgende Wort sprechen lässt: „Wenn Du sie strafst, so sind sie Deine Diener, und wenn Du ihnen vergibst, so bist Du ja der Allmächtige und Allweise.“ (5:118). Insofern ist es sicher auch nicht verkehrt diese Studie mit den oben schon zitierten Worten Ġazālīs abzuschließen: „Halte die Barmherzigkeit Gottes für weit und ausgedehnt und wiege die göttlichen Dinge nicht mit gewöhnlichen Waagen!

Quellen

  • Bauschke, Martin, Der Sohn Marias, Darmstadt 201
  • Bubenheim, Frank / Elyas, Nadeem: Der edle Qurʾān – und die Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutschen Sprache, al-Madīna al-Munawwara 2004
  • Hamidullah, Muhammad / Salih Tuğ (Übers. ins Türkische), Islâm Peygamber (dt.: Der Prophet des Islam), Ankara 2003
  • al-Ġazālī, Muḥammad / Griffel, Frank Griffel (Übers.): Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz – eine Übersetzung der Schrift ‚Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit (Fayṣal at-tafriqa bayn al-Islām wa-z-zandaqa), Zürich 1998.
  • al-Nawawī, Yaḥyā ibn Sharaf / Schöller, Marco (Hrsg. u. Übers.): Das Buch der vierzig Hadithe – Mit einem Kommentar von Ibn Daqīq al-ʿĪd, Frankfurt a. M. /Leipzig 2007.
  • Özsoy, Ömer: „Leute der Schrift“ oder Ungläubige? Ausgrenzungen gegenüber Christen im Koran, in: Hansjörg Schmid / Andreas Renz / Jutta Sperber / Duran Terzi (Hgg.): Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentun und Islam, Regensburg 2007, S. 107-118.
  • Şa’bân, Zekiyyüddîn / Ibrahim Kâfi Dönmez (Übers. ins Türkische): Islâm Hukuk Ilminin Esasları (Die Grundlagen der islamischen Rechtswissenschaft), Ankara 2006
  • Takım, Abdullah: Koranexegese im 20. Jahrhundert: Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ateş’s „Zeitgenössischem Korankommentar“, Istanbul 2007.

[1] Im Türkischen: Süleyman Ateş: Yüce Kur’an’ın Çağdaş Tefsiri, 12 Bände, Istanbul 1988-1992. Zahlreiche Aspekte des Gesamtwerkes von Ateş wurden im deutschsprachigen Raum erstmals von Abdullah Takım umfassend untersucht und dargestellt in: Abdullah Takım: Koranexegese im 20. Jahrhundert: Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ateş’s „Zeitgenössischem Korankommentar“, Istanbul 2007. An seiner Darstellung orientieren sich die Bezüge auf Ateş in dieser Arbeit.

[2] Vgl. Takım, Ateş, S. 223 f. Der Begriff “Exklusivismus” wird in dieser Arbeit für die klassisch-islamische Mehrheitsposition verwendet, obwohl diese sehr wohl auch eine inklusivistisch gefärbte globale Religionsgeschichte zeichnet, in der der muhammadanische Islam eine Erneuerung und Vervollkommnung vor allem der abrahamischen Tradition darstellt, und nicht etwa einen Gegenentwurf. Da in der Lesart der klassischen Gelehrten ohne die Übernahme dieser vervollkommnenden islamischen Perspektive jedoch im Regelfall kein jenseitiges Heil möglich ist, haben wir es dabei eben doch mit einem Heilsexklusivismus zu tun, der die Glaubensgruppen außer den Muslimen zunächst vom Paradies ausschließt. 

[3] Hieber handelt es sich um eine ausführliche Antwort von 1991 auf Turan Dursuns islamkritisches Werk „Din bu“ – „Das ist die Religion“. Der Titel der Antwort Ateşs bedeutet wiederum „Das ist die echte Religion“

[4] Süleyman Ateş, zitiert nach der Übersetzung von Takım, Ateş, S. 228.

[5] Wir werden die von Ateş zitierten Verse und eine Reihe weiterer inhaltlich verwandter im nächsten Abschnitt vorstellen.

[6] Takım, Ateş, S. 230f.

[7] Sowohl die hier folgenden sinngemäßen, als auch die wörtlichen Zitate aus dem Koran folgen Frank Bubehnheim / Nadeem Elyas: Der edle Qurʾān – und die Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutschen Sprache, al-Madīna al-Munawwara 2004.

[8] Ömer Özsoy bevorzugt als Übersetzung von kufr den Begriff „Undankbarkeit“. Vgl. Ömer Özsoy: „Leute der Schrift“ oder Ungläubige? Ausgrenzungen gegenüber Christen im Koran, in: Hansjörg Schmid / Andreas Renz / Jutta Sperber / Duran Terzi (Hgg.): Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentun und Islam, Regensburg 2007, S. 107-118, hier S. 115-117.  Passend wäre in manchen Kontexten auch eine Übersetzung als „bewusste Leugnung trotz Evidenzen“, zumal der Koran als Konsequenz von kufr mehrfach den gänzlich Ausschluss vom Heil androht, was bei bloßer oder punktueller Undankbarkeit vermutlich nicht zu erwarten wäre. Die Übersetzung von kufr als Unglaube ist weit verbreitet, verengt jedoch den semantischen Gehalt des Verbes kafara erheblich. Dennoch dies soll aufgrund der Verbreitung dieser Übersetzung auch in dieser Arbeit beibehalten werden. Özsoy verweist auf folgende weitere ursprüngliche Wortbedeutungen: vertuschen, verbergen, verdecken, (eine gute Tat) nicht beachten, undankbar sein. Vgl. ebd., S. 115. Die genaue Übersetzung ändert nichts an den drastischen jenseitigen Strafandrohungen für bewusst vollzogenen und hartnäckigen kufr (z. B. 2:6-7).

[9] Takım, S. 231-232.

[10] Vgl. Takım, S. 232.

[11] Beachte aber, dass sowohl „Muslim“, als auch „Islam“ im Koran zweideutig ist. Diese Begriffe werden  sowohl als Eigennamen für die Anhänger und die Botschaft Muhammads verwendet, aber an manchen Stellen gemäß der Wortbedeutung auch im weiteren Sinne für die generelle Hingabe an Gott im Sinne des abrahamischen Monotheismus. So lässt der Koran einige Leute vom Volk der Schrift sprechen: innā kunnā min qablihi muslimīn – wir waren schon vor ihm (dem Koran) gottergeben/“Muslime“.

[12] Natürlich kann der Exeget versuchen alle exklusivistisch anmutenden Passagen eng zu kontextualisieren und zu spezifizieren und die inklusivistisch anmutenden Passagen möglichst breit und unter minimalistischen Voraussetzungen zu verallgemeinern. Jedoch wird die Schwierigkeit darin liegen zu zeigen, dass diese Ungleichbehandlung der Versgruppen wirklich mehr durch den Text selbst, als durch die durchaus nachvollziehbaren Intentionen des Auslegers motiviert ist. Womöglich ist es im Sinne der intellektuellen Redlichkeit besser hier beide Versgruppen so fair wie möglich zu behandeln. Es gibt auch außerhalb einer  radikal inklusivistischen Auslegung kritischer Verse zum jenseitigen Heil Mechanismen und Perspektiven sowohl für einen gesellschaftlichen Pluralismus, als auch zur Unterbindung verfrühter Urteile über das Heil Andersgläubiger, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird.

[13] Eine Diskussion der hierzu teils erzwungenermaßen eingegangenen exegetischen Kompromisse würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Hier sei nur der Hinweis erlaubt, dass die „inklusivistischsten“ Vers 2:62 und 5:69, deren Wortlaute von den Schriftbesitzern nur (1) den Glauben an Allah und (2) das Jenseits, sowie (3) das Verrichten guter Werke fordern, von Seiten der islamischen Tradition entweder durch eine Spezifizierung auf die vorislamischen Schriftbesitzer relativiert werden, oder durch eine Spezifizierung des (1) Glaubens an Allah im koranisch-islamischen Sinne in allen Details. Beide Strategien immunisieren letztlich das exklusivistische Szenario und scheinen den Versen auch einen tieferen Sinn zu rauben. Hier ist wahrscheinlich mehr, auch wenn eine radikal inklusivistische Lesart ihrerseits zu anderen Inkonsistenzen führt. Mir ist aktuell keine vollständig befriedigende Erklärung zu 2:62 bzw. 5:69 bekannt. Vgl. Takım, Ateş, S.236 ff.

[14] Etwa, wenn man im Koran eher ein Konzept von Tritheismus als der Trinität vorfindet, was wahrscheinlich den Christologien der Christen auf der arabischen Halbinsel geschuldet ist (5:116).

[15] Martin Bauschke nennt als relevante christliche Strömungen im Fokus des Korans neben Arianern und Miaphysiten insbesondere die arabischen Judenchristen. Vgl. Martin Bauschke, Der Sohn Marias, Darmstadt 2013, S. 4.

[16] Bauschke führt eine Reihe diskussionswürdiger Argumente dafür an, dass sich der Koran (vgl. 5:47) sich mit seiner stets im Singular gehaltenen Rede vom inǧīl primär auf eine in Arabien verbreitete Evangelienharmonie bezogen haben könnte, nämlich auf das Diatessaron des Tatian. Vgl. Bauschke, Sohn, S. 4 f. Ein solches Szenario würde erneut die Frage aufwerfen, inwieweit dieses Diatessaron noch die Bedingungen einer Offenbarung an Jesus erfüllt, von der der Koran ja auch ausgeht, und ob der Koran den Begriff inǧīl überhaupt im strengen Sinne kohärent verwendet (und nicht etwa einmal als reine Offenbarung und dann wieder als Überlieferungssammlung). In jedem Fall ist hier noch viel interdisziplinäre und hermeneutische Arbeit gefragt.

[17] Psalmen Davids.

[18] Z. B. 5:12.

[19] Zur besseren Einordnung sei daran erinnert, dass wir diesen Argumentationsgang unter Ateşs Prämisse führen, dass man den Heilsbedingungen des Korans (vgl. 2.1) auch in einer nichtislamischen Buchreligion genügen kann, und dass diese Prämisse von der Mehrheitsmeinung in der islamischen Orthodoxie abweicht. Diese drei praktischen Aporien treten in der Orthodoxie naturgemäß nicht auf. Dafür hat diese mit anderen Aporien zu kämpfen, etwa wenn sie die fehlende Zugehörigkeit zum Islam als objektiv hinreichende Bedingung für eine potenzielle ewige Bestrafung in der Hölle postuliert und zugleich von einer im wesentlichen gegebenen (aber faktisch undenkbaren) Chancengleichheit der Menschen im Auffinden der einen gottgefälligen Religion ausgeht. Im nächsten Abschnitt versuchen wir eine dritte Perspektive zu finden.

[20] Muḥammad al-Ġazālī / Frank Griffel (Übers.): Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz – eine Übersetzung der Schrift ‚Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit (Fayṣal at-tafriqa bayn al-Islām wa-z-zandaqa), Zürich 1998, S. 86f. Rechtschreibung wurde angepasst.

[21] Ebd., S. 88.

[22] In anderen Werken (wie beispielsweise in seiner Autobiografie) äußert sich Ġazālī deutlich kritischer zur Rolle, die Wunderberichte zum Beleg der Wahrheit der islamischen Religion haben könnten.

[23] Eine Möglichkeit neben der Subjektivität von Erkenntnis auch apriorische Elemente des Glaubensbezugs auszumachen, besteht darin Passagen wie 7:172 so zu deuten, dass gewisse Glaubensansätze existenziell in uns angelegt sind und keiner rationalen Herleitung bedürfen.

[24] Dies ist übrigens auch die Grundlage der Festlegung eines Mindestalters (ab ca. 15), ab den laut den klassischen Islamgelehrten das Individuum vollumfänglich vor dem islamischen Recht verpflichtet ist: „Es ist nicht möglich jemanden in seiner Sache zu prüfen, wenn er nicht in der Lage ist die an ihn gerichtete Rede zu begreifen.“ (eigene Übersetzung)  Zekiyyüddîn Şa’bân / Ibrahim Kâfi Dönmez (Übers. ins Türkische): Islâm Hukuk Ilminin Esasları (Die Grundlagen der islamischen Rechtswissenschaft), Ankara 2006, S. 293 ff.

[25] Die unmittelbare Zeit nach dem Ableben des Propheten einschließlich der ersten Generationen danach kann hier aufgrund der kulturellen und zeitlichen Nähe zum Offenbarungsereignis und der Präsenz von Gefährten des Propheten und ihrer Schüler in manchen Zusammenhängen mit dazu gedacht werden.

[26] Es würde dem Thema sowie dem aktuellen Stand der Wissenschaftstheorie nicht gerecht werden, wenn man logisch streng notwendige Gewissheit als Voraussetzung für Verpflichtung vor Gott einfordern würde – darum die wohlwissend unscharf gehaltene Formulierung „pragmatisch hinreichende Erkenntnis der Richtigkeit“ im Sinne von: Eine Erkenntnis, die unter den Bedingungen der alltäglichen Lebenswirklichkeit als nicht weniger sicher und verlässlich empfunden wird, wie andere entscheidungsrelevante Erkenntnisse.

[27] Der Koran weist einerseits eine Reihe von Versen auf, die ausdrücklich die Welt der Erstadressaten als Ziel der Prophetenschaft Muhammads formulieren: 4:41, 6:92, 2:129-131. Aber ebenso gibt es koranische Aussagen, die über den konkreten Erstadressaten hinaus „alle Welten“ als Adressaten des Korans thematisieren: 25:1, 34:28, 21:107. Im Hadith ist der Aspekt der universalen Sendung noch deutlicher formuliert.

[28] Eigene Übersetzung aus dem Türkischen aus: Muhammad Hamidullah / Salih Tuğ (Übers. ins Türkische), Islâm Peygamberi (dt.: Der Prophet des Islam), Ankara 2003, S. 575.

[29] Ebd., S. 576.

[30] Das bedeutet freilich nicht, dass dies einen irdischen Zwang zur Konversion legitimiert hätte, wie allein schon eine Reihe der späten medinensischen Koranverse wie z. B. 5:5 und 5:48, aber auch im Kontext des Konflikts mit den Juden formulierte wie 5:13 („Verzeihe ihnen und übe Nahsicht.“) zeigen. Es geht hier nur um das theologische Urteil.

[31] Yaḥyā ibn Sharaf al-Nawawī  / Marco Schöller (Hrsg. u. Übers.): Das Buch der vierzig Hadithe – Mit einem Kommentar von Ibn Daqīq al-ʿĪd, Frankfurt a. M. /Leipzig 2007, S. 13.