Inhalt

1. Analytische Theologie als Grundlage in der Koranauslegung

2. Unterscheidung zwischen Dogmatik und Pragmatik

3. Unbedingte und bedingte Gebote (taʿlīl)

4. Bedingte Gebote am Beispiel der Kriegsverse

5. Bedingte Gebote am Beispiel der Geschlechterrollen

6. Die Spezifizierung universeller Aussagen am Beispiel der Verse über Juden und Christen (taḫṣīṣ)

7. Die Metaphorische Auslegung (taʾwīl)

8. Analytische Koranhermeneutik als exegetisch fundierte Kontextualisierungsmethode

Bibliographie

1.    Analytische Theologie als Grundlage in der Koranauslegung

Der sunnitische Traditionalismus vertritt die Auffassung, dass der Sinn des Korans in der islamischen Überlieferung unter prophetischer Autorität authentisch gewahrt und aufgehoben ist. Modernistische Neuauslegungen wiederum suchen nach einem Verständnis des Korans, das die gewandelten Lebensbedingungen berücksichtigt und auch ohne Umweg über die klassische Gelehrtentradition ein rationales und freiheitliches Islamverständnis ermöglicht. Die historische Hermeneutik wiederum verweist auf die gängigen Narrative und Denkfiguren der Erstadressaten des Korans, und versteht diese als die wichtigsten Bezugspunkte für ein richtiges Verstehen des Korans und somit als Voraussetzung für eine hermeneutische Übersetzungstätigkeit der koranischen Botschaft in unsere heutige Welt (vgl. Özsoy: 13-14).

Die in diesem Beitrag vertretene analytische Koranhermeneutik verläuft quer zu den genannten Positionen und ist als Bestandteil einer allgemeineren analytischen islamischen Theologie zu verstehen. Der analytische Zugang ist bestrebt, Vorhandenes begrifflich zu erschließen, logisch aufzuarbeiten, Annahmen und Folgerungen von Argumenten zu identifizieren und sie somit intersubjektiv verstehbar und beurteilbar zu machen. Insofern kann sie auch als Ausgangspunkt eines Vergleiches der erwähnten Ansätze dienen. Ferner bemüht sich analytische Theologie um Explikation, Prüfung von Wahrheitsansprüchen, Beurteilung logischer Kohärenz und um Fragen der Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung. Sie schränkt ihren Fokus bewusst auf entsprechend formalisierbare Fragestellungen ein und beansprucht nicht, alle Phänomene des Glaubens zu erfassen oder die anderen Ansätze vollständig zu ersetzen. Vielmehr ist sie eine Art des Fragens und Argumentierens, die in den anderen Ansätzen oft zu kurz kommt.

Die koranische Basis für einen analytischen Ansatz ist vielfältig. So ruft Sure 38, Vers 29 des Korans (kurz: 38:29) die Vernunftbegabten dazu auf, über die Verse des Korans nachzudenken. Diese Verse stehen laut 15:9 unter dem Schutz Gottes, was ihnen eine Sonderstellung innerhalb der islamischen Quellen zusichert. Zentral ist ferner die Aussage aus 4:82, dass der Koran als Gotteswort auf der inhaltlichen Ebene widerspruchsfrei ist. Im Lichte des analytischen Ansatzes gelesen, bedeutet dies, dass die Orientierung des Exegeten an logischer Widerspruchsfreiheit ein koranisches Prinzip ist.

Die Bezugspunkte analytischer Koranhermeneutik in der islamischen Gelehrtentradition liegen vor allem in der klassisch-islamischen Rechtshermeneutik (uṣūl al-fiqh), die die erkenntnistheoretischen und sprachwissenschaftlichen Prinzipien der Koranauslegung thematisiert sowie ein System von Auslegungstechniken bereitstellt. Wichtig sind auch die logischen Untersuchungen der islamischen kalām-Theologen (Vertreter der systematischen Theologie) und Philosophen aus den ersten Jahrhunderten des Islams. Eine prominente Rolle spielt dabei der Theologe al-Ġazālī (gest. 1111), der bis ans Ende seines Lebens daran festhielt, dass innerislamische Differenzen durch eine strikte Orientierung an den Regeln der Logik bei der Auslegung von Koran und Hadith aufgelöst werden könnten (vgl. Rudolph 2005: 80-81). Uns soll es dabei weniger um die praktischen Schlussfolgerungen dieser Gelehrten gehen, die immer auch die Lebenswirklichkeit ihrer Zeit wiederspiegeln, sondern um die von ihnen begründeten Denkfiguren, die über ihre Zeit hinausweisen. Al-Ġazālīs letztes großes Werk ist ein Kompendium der oben erwähnten Rechtshermeneutik. Es beginnt mit einem langen Vorwort zur Logik, bestehend aus der Lehre von der Begriffsdefinition (ḥadd) und vom wissenschaftlichen Beweis (burhān), die er als die Erkenntnisweisen der Vernunft (madārik al-ʿuqūl) bezeichnet. Zur Lehre vom Beweis gehören nach al-Ġazālī die logisch gültigen Schlussformen im Geiste der ersten und zweiten Analytiken des Aristoteles, sowie eine Kategorisierung der Arten von gesichertem Vernunftwissen (vgl. Rudolph 2005: 79). Al-Ġazālī schreibt, dieses Vorwort zur Logik sei zu verstehen als ein Vorwort „… zu allen Wissenschaften. Wer seinen Inhalt nicht begreift, dessen Wissen ist auf keinem Fall zu trauen.“ (al-Ġazālī 1971: 19).

Als modernes Namensvorbild für eine analytische islamische Theologe ist die christlich geprägte analytische Theologie im angelsächsischen Sprachraum zu nennen, wie sie unter theologischer Adaptation der Methoden der neueren analytischen Philosophie entstanden ist (vgl. Crisp/Rea 2010) und neuerdings auch in Deutschland diskutiert wird (vgl. Gasser et al. 2017). Zum anderen sind darin auch Themen und Motive der modernen Wissenschaftstheorie  wiederzufinden. Im Folgenden soll nun anhand einiger kontrovers diskutierter Beispiele skizzenhaft gezeigt werden, wie ein analytischer Ansatz in der Koranhermeneutik fruchtbar gemacht werden kann, und worin seine Besonderheiten liegen. Dabei werden wir uns auf den Korantext selbst konzentrieren, der weitgehend zusammenhängend überliefert ist und einen einheitlichen Authentizitätsgrad besitzt – eine wichtige Voraussetzung analytischer Arbeit. Diese Koranzentrierung soll anderen islamischen Quellen keinesfalls ihre Relevanz absprechen. Vielmehr geht es ihr darum, den markanten Wortlaut des Korans vollständig auszureizen und logisch zu analysieren, und erst danach auf andere Quellen und Methoden zurückzugreifen, die naturgemäß spekulativer sind. 

2. Unterscheidung zwischen Dogmatik und Pragmatik

Die erste und wichtigste analytische Feststellung lautet, dass in Fragstellungen zum Islam Perspektiven der Islam-Dogmatik und Islam-Pragmatik unterschieden werden müssen. Dogmatik thematisiert die systematisch erschließbaren Inhalte, Aussagen und Gebote islamischer Quellen und Rechtstraditionen, also den „eigentlichen“ Islam. In ihrem Zentrum stehen Texte und Lehren. Pragmatik hingegen fragt nach den psychologischen und soziologischen Bedingungen muslimischer Lebenswirklichkeiten, nach historisch gewachsenen Lebenspraktiken und Milieustrukturen, sofern sie auch nur entfernt Bezüge auf den Islam oder muslimische Identität beinhalten. In ihrem Zentrum stehen individuelle Biografien und soziale Kontexte. Diese Welt der Praxis wird irreführenderweise auch oft als „Islam“ bezeichnet, obwohl es sich dabei um soziale Strukturen und damit verbundene Sprach- und Handlungsgewohnheiten handelt, in denen der Islam nur eine von sehr vielen Komponenten darstellt. Zudem ist der Islam hier hochgradig selektiv und nicht methodisch geleitet eingebunden.

Es gilt: Pragmatik und Dogmatik beeinflussen sich gegenseitig. Jedoch folgt selbst in den meisten religiösen Kreisen die Pragmatik einer völlig anderen Logik und Dynamik als die Dogmatik und muss daher auch anders analysiert werden. Es ist daher ein Kategorienfehler, Erscheinungen in der Lebenswirklichkeit von Muslimen ohne nachweisbaren Zusammenhang direkt auf vermeintliche Ursachen in der Dogmatik wie z. B. bestimmte Koranverse oder Gelehrtenmeinungen zurückzuführen. Dem Koran kommt in der Lebenswirklichkeit der meisten Muslime nur eine symbolische und liturgische Rolle zu. Religiöse Bildung ist darüber hinaus oftmals vorhanden, aber wird meist durch Sozialisation und Vorbilder und selten durch Texte und noch seltener durch Koranauslegung im engeren Sinne vermittelt. Die Lebenswirklichkeit ist die Schablone, durch die die meisten Muslime ihr Islam- und Koranbild konstruieren, völlig unabhängig davon, wie individualistisch oder kollektivistisch sie selbst geprägt sind. Deswegen ist die Praxis religiöser Muslime in säkularen Demokratien meist jeglicher theologischen Theorie weit vorausgeeilt.

Analytische Koranhermeneutik interessiert sich nun weniger für solch komplexe Fragen der Pragmatik und strebt auch keine Widerlegung des allgegenwärtigen pragmatischen Zugangs zum Islam an. Vielmehr dient sie der inhaltlichen Durchdringung und Analyse theologischer Positionen, insbesondere im Umfeld des Korans, und überlässt Fragen der Praxisrelevanz der Domäne der Pragmatik. Insbesondere können Ergebnisse der Dogmatik in der Pragmatik durchaus auch selektiv übernommen oder neu priorisiert werden, abhängig von der Lebenswirklichkeit, die einer anderen Logik folgt. Dennoch ist und bleibt es aus islamischer Sicht wünschenswert, dass Pragmatik und Dogmatik im Leben des gläubigen Muslims konstruktiv aufeinander bezogen werden können, wofür analytische Koranhermeneutik einen Beitrag leisten kann. Nach dieser Unterscheidung von Dogmatik und Pragmatik können wir uns nun einige Themen der Koranauslegung aus Sicht der analytischen Koranhermeneutik näher anschauen.

3. Unbedingte und bedingte Gebote (taʿlīl)

Als sehr hilfreich erweist sich die klassisch-islamische Aufteilung islamischer Gebote in unbedingte Gebote, die im Geiste des Gehorsams (taʿabbud) gegenüber Gott befolgt werden, und bedingte Gebote, die von einer rational erkennbaren Bedingung abhängen (taʿlīl), die wiederum einem praktischen Zweck (bzw. einer ratio legis) dient (vgl. Şa‘bân 2006: 147-158). So gilt nach mehrheitlicher Gelehrtenmeinung beispielsweise das koranische Weinverbot nicht mehr, sobald der Wein zu Essig gegoren ist, da für das Weinverbot als Begründung bzw. Ursache (ʿilla) die berauschende Eigenschaft des Weins angenommen wird. Beim erlaubten Weinessig ist diese Ursache jedoch nicht mehr vorhanden. Die äußeren Formen des rituellen Gebets hingegen werden vom Gläubigen als gottesdienstlicher Akt umgesetzt, ohne einen unmittelbaren praktischen Nutzen hinter dessen Einzelheiten zu kennen, etwa wenn es um die Anzahl der Gebetseinheiten oder die Gebetsrichtung geht (Şa‘bân 2006: 140). Damit bleiben diese Formen auch weitgehend unveränderlich, von Ausnahmeregelungen bei Krankheit etc. abgesehen.

Diese auch in der philosophischen Normenlogik bekannte und diskutierte Unterscheidung von bedingten und unbedingten Geboten bzw. Normen hat für die islamische Praxis weitreichende Relevanz. Werden nämlich alle Gebote zu unbedingten Geboten erklärt, dann wird die islamische Praxis zu einem starren Regelwerk ohne jede Anpassungsmöglichkeit. Werden alle Gebote zu bedingten Geboten erklärt, verflüssigt sich islamische Praxis in Richtung faktischer Beliebigkeit. Wenn jedoch stets ein Beweis für die Bedingtheit bzw. Unbedingtheit eines konkreten Gebotes oder Verbotes verlangt wird, kommt man zu dem naheliegenden Ergebnis, dass manche Gebote im Islam bzw. in den islamischen Quellen bedingt und andere unbedingt sind. Die Frage ist dann nur noch, welche davon bedingt sind, und von welchen rational nachvollziehbaren Bedingungen diese abhängen. Ein großer Teil der Thesen zur Reform des klassisch-islamischen Rechts ließe sich deutlich übersichtlicher in solchen konkreten Kategorien diskutieren.

4.   Bedingte Gebote am Beispiel der Kriegsverse

Steigen wir mit einem anschaulichen, aber nicht zu alltagsnahem Beispiel ein: In 8:60 gebietet der Koran für einen möglichen Kriegszustand ausreichend kampffähige Pferde bereitzuhalten. Wenn man dies als unbedingtes Gebot verstehen würde, dann wäre es auch heute eine religiöse Pflicht, Pferde gegen einen mit moderner Kriegstechnologie anrückenden Angreifer einzusetzen. Der Vers nennt aber als Zweck (bzw. ratio legis) dieser Regelung die Abschreckung potenzieller Angreifer, was zeigt, dass wir es hier mit einem bedingten Gebot zu tun haben. Der Vers geht, so gedeutet, also von folgender normativen Wenn-dann-Bedingung aus: „Wenn Pferde den Angreifer abschrecken, dann rüstet euch mit Pferden.“ Diese Bedingung ist heute jedoch in den meisten Fällen nicht mehr erfüllt. Damit entfällt die Verpflichtung auf einen Einsatz von Pferden. Man kann also in islamischen Quellen auffindbare Handlungsanweisungen selbst im klassischen exegetischen Paradigma hinterfragen und für die Praxis anpassen, ohne die entsprechenden Quellen pauschal ablehnen zu müssen, sofern man aufzeigen kann, dass es sich dabei um bedingte Gebote handelt, und dass deren Zweck nicht mehr mit den tradierten Mitteln erfüllt wird.

Ein versöhnlicheres Beispiel als das der Kriegspferde findet sich im Folgevers 8:61. Dort heißt es: „Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu und verlasse dich auf Allah“. Dieser Vers transportiert auch ein bedingtes Gebot: Wenn der Gegner den Frieden bevorzugt, dann bevorzuge auch du den Frieden. Aus diesem Vers folgt, dass die Kriegsthematik in der betreffenden Sure nicht als unbedingter Krieg gegen die damaligen nicht muslimischen Vertreiber der Muslime verhandelt wird, sondern als bedingter Krieg, der einzig in der militärischen Bedrohungslage begründet liegt. 8:61 kontextualisiert also die gesamte Sure und verweist zudem auf einen konkreten historischen Hintergrund.

Vom Standpunkt der analytischen Koranhermeneutik reicht ein solches Argument aber nicht aus, um zu beweisen, dass der Koran Krieg generell nur defensiv begründet, auch wenn es sich um eine Stelle aus einer medinensischen Sure handelt. Vielmehr würde der analytische Exeget den Koran nun nach möglichst allen anderen Stellen zur Kriegsthematik absuchen und – der pragmatischen Vernunft völlig zuwider – vor allem nach jenen Stellen Ausschau halten, deren Wortlaut der bevorzugten Auslegung widerspricht. Denn die Grundidee ist ja mit 4:82, dass der Koran auf der Bedeutungsebene (aber nicht auf der Ebene des Wortlautes) widerspruchsfrei ist, was der analytische Exeget für jeden Auslegungsvorschlag prüfen muss. Insbesondere will er ein Fazit ableiten, das mit dem gesamten Koran logisch kompatibel ist. Rasch zeigt sich nun, dass dies keine einfache Aufgabe ist, da der Koran sich in über 15 medinensischen Suren, teils auf vielen Seiten aus verschiedensten Perspektiven der Kriegsthematik gewidmet hat. Uns soll hierbei nur ein einziger Aspekt interessieren: Ist unsere obige Auslegung von 8:61, dass der Koran Krieg gegen Nichtmuslime nur aus einem Defensivzusammenhang heraus legitimiert, auf den gesamten Koran verallgemeinerbar? Oder in analytischer Sprache: Lassen sich alle Kriegspassagen des Korans logisch kohärent als ein System von Sätzen lesen, das einen nur bedingten Krieg legitimiert?

Mit (medinensischen) Passagen wie 8:61, 22:39-40 und 2:190-193 ist dies relativ leicht möglich, mit Toleranzversen wie 2:256 sowieso. Doch spätestens in Sure 9, die als die späteste von Krieg handelnde Sure gilt, wird es brenzlig. Denn ein Vers wie 9:5, der als „Schwertvers“ bekannt wurde, klingt nicht nur auf schockierende Weise offensiv („…tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet…“), sondern er wurde von manchen Gelehrten auch so gelesen, dass sein Wortlaut dem bedingten Gebot von 8:61 und anderen älteren Kriegspassagen widerspricht und sie nun durch das Gebot eines unbedingten Krieges gegen alle Polytheisten ersetzt, unabhängig vom Vorliegen einer Verteidigungssituation (vgl. Özel 1996: 15-17). Doch wie gingen diese Gelehrten dann mit der These von der Widerspruchslosigkeit des Korans um? Unter Berufung auf 2:106 haben sie behauptet, dass im Koran manchmal neuere rechtlich relevante Verse ältere ablösen können, da sich die Lebensumstände der Gemeinde des Propheten innerhalb von 23 Jahren so schnell veränderten, dass der Koran eine schrittweise Entwicklung zu seinen endgültigen Geboten hin bevorzugte. Eine solche Ablösung bzw. Abrogation (nasḫ) liegt demnach vor, wenn ein neuerer Koranvers mit praxisrelevantem Inhalt einem alten widerspricht. Angewandt auf unser Thema hieße das, dass laut den genannten Gelehrten die meisten Toleranzverse des Korans und seine zahlreichen bedingten Kriegspassagen nur eine Vorbereitung des letztlichen totalen Krieges des Islams gegen die Außenwelt gewesen wären, der nun mit Sure 9 begann (vgl. Hamdan 2015).

Als ob die Existenz dieser Lesart nicht schon verstörend genug wäre, kommt hinzu, dass in der Gegenwart sowohl eine Minderheit kriegs- und terrorlüsterner Muslime, als auch praktisch die Gesamtheit der Islamkritiker den Koran genauso versteht und somit das Gros der Muslime, das derartige Gewalt als unislamisch ablehnt, unter erheblichen Zugzwang setzt. Doch wie reagieren die letzteren nun auf diese Position? Falls sie sich überhaupt mit solchen Fragen befassen, deuten sie Sure 9 genauso wie die älteren Suren als Ausdruck eines nur bedingten Kampfgebotes. Sie versuchen also, Sure 9 in logischer Vereinbarkeit mit der Lesart des bedingten (Verteidigungs-)Krieges auszulegen. Demnach war die Kriegsthematik in Sure 9 ebenfalls nur eine Reaktion auf einen militärischen Angriff oder auf eine Bedrohung der Muslime. Unter pragmatischen Gesichtspunkten lässt sich dies natürlich einfach so behaupten oder gar als Mehrheitsmeinung etablieren,  frei nach dem Motto: Solange die Muslime den Islam für eine friedliche Religion halten, ist es für die Praxis gleichgültig, wie der Islam „wirklich“ ist. Aber aus der Perspektive des muslimischen Analytikers käme es einem Totalversagen der Theologie gleich, wenn diese geglaubte Friedensbereitschaft des Islams nicht aus seinen Grundlagen hergeleitet werden könnte. So kann man nun verschiedene historisch-kontextuelle Argumente anführen, um die bedingte Kriegstheorie in ihrem wesentlichen Gehalt zu retten, wie es in der Literatur üblich ist (vgl. z. B. Özel 1994: 20-21).

Doch aus Sicht des Analytikers startete die ganze Diskussion ja woanders. Die These war, dass die Kriegsaufrufe in Sure 9 im Unterschied zu denen der älteren Suren von unbedingter und nicht bedingter Art waren, sodass dies eine Ablösung der alten defensiven Regelung zur Folge hatte. Die eleganteste Lösung wäre daher, wenn man koranimmanent, aus dem bloßen Wortlaut von Sure 9 heraus, zeigen könnte, dass der dortige Kriegsaufruf nicht absolut ist. In der Tat heißt es schon in 9:6: „Und wenn jemand von den Götzendienern dich um Schutz bittet, dann gewähre ihm Schutz“. Wenige Verse später wiederum werden die in Sure 9 gemeinten Gegner konkretisiert als jene, „die ihre Eide gebrochen haben und vorhatten, den Gesandten zu vertreiben, wobei sie zuerst gegen euch (mit Feindseligkeiten) anfingen.“ (9:13). Dies sind deutliche Verweise auf den im Ursprung defensiven Zusammenhang und historisch eng gebundenen Kontext von Sure 9. Später in 9:36 heißt es unser Defensivszenario nochmals bestätigend: „Und bekämpft die Götzendiener allesamt, wie sie euch allesamt bekämpfen.” Auch der berühmte Tributvers 9:29 gegenüber Juden und Christen befindet sich mitten in dieser langen Passage 9:1-36, die von der gebotenen Reaktion gegenüber aggressiven bzw. vertragsbrüchigen heidnischen Stämmen und ihren Verbündeten handelt. Dies ist einer von mehreren Gründen dafür, diese Kontextualisierung auch hierauf anzuwenden.

Wie man sieht, steht Sure 9 unter demselben Szenario des nur bedingten Kriegs wie die älteren Suren. Nur ist der Stil und der Aufbau der Sure derart anders, dass die Bedingungen von 9:5 erst in den Folgeversen genannt sind und kleinschrittig extrahiert werden müssen. Sure 9 hat die koranische Kriegstheorie demnach gar nicht grundsätzlich verändert, sondern auf eine dramatisch zugespitzte Situation im Leben des Propheten angewandt. Der historische Kontext kommt hier also trotz unseres einfachen textanalytischen Vorgehens geradezu durch die Hintertür herein, auch wenn wir ihn nicht so sicher kennen wie den Wortlaut des Textes.

Damit ist die Lesart des totalen Krieges nicht völlig widerlegt, aber unwahrscheinlich gemacht. Konkret: Es gibt nun zwei gesamtheitliche Lesarten der koranischen Kriegsthematik. Die eine geht von einer Ablösung der alten Verteidigungsverse durch den scheinbar unbedingten Kriegsaufruf von 9:5 aus. Die andere geht davon aus, dass 9:5 im Kontext der eigenen Sure gelesen nur als bedingter Kriegsaufruf gegen konkrete Aggressoren gelten kann. Welche Deutung entspricht den Tatsachen nun eher, wenn sich selbst die großen Gelehrten von einst hierin doch offensichtlich uneinig waren? Wir können dazu Folgendes festhalten: Das Verteidigungskriegsszenario kommt mit weniger Zusatzannahmen aus und wird einer logischen Kohärenz des Korans gerechter als das Szenario des totalen Kriegs. Wie wir sehen, werden die zahlreichen genannten kontextualisierenden Hinweise aus Sure 9 von der Lesart des unbedingten Krieges weder thematisiert noch zur Kenntnis genommen. Beim Versuch, 9:5 gegen die älteren Suren auszuspielen, wurde 9:5 also gegen die Sure 9 selbst in Stellung gebracht.

Hier wird ein weiterer wichtiger Punkt deutlich: Analytisches Vorgehen muss sich stets mit mehreren logisch möglichen, aber miteinander konkurrierenden Auslegungsmöglichkeiten befassen. Je intensiver die Textarbeit wird, umso deutlicher wird, wie „elegant“ und zwanglos die eine oder andere Deutung bzw. „Theorie“ ausfällt. Und nicht nur aus der Geschichte der Naturwissenschaften wissen wir, dass Theorien umso erfolgreicher und fruchtbarer, und letztlich wohl auch „wahrheitsähnlicher“ (Karl R. Popper) sind, je weniger künstliche Zusatzannahmen sie machen müssen um haltbar zu bleiben. Dass 9:5 die älteren Kriegspassagen durch eine Lehre vom totalen Krieg abgelöst hätte, erweist sich als voraussetzungsreiche Behauptung ohne Beweis, deren Ziel es vielleicht war, die Expansion des frühen Reiches nach dem Propheten rückblickend theologisch zu legitimieren – also als eine politisch motivierte Ad-hoc-Hypothese, deren Tribut die islamische Theologie heute noch zahlt.

5. Bedingte Gebote am Beispiel der Geschlechterrollen

Wenden wir uns nun einem weiteren Beispiel für bedingte Gebote bzw. Normen zu. Ein analytischer Blick auf die im Koran thematisierten Geschlechterrollen legt nahe, nach Koranversen mit „emanzipatorischem“ bzw. mit „patriarchalischem“ Gehalt Ausschau zu halten. So definiert der Koran einerseits Liebe und Zärtlichkeit als Grundverhältnis zwischen Mann und Frau (30:21), ernennt sie zu gegenseitigen Gewändern (2:187), verspricht beiden göttliche Zuwendung (3:195) und adelt sie in einer seiner spätesten Suren gar als gegenseitige Freunde und Helfer mit gemeinsamer öffentlicher Verantwortung (9:71). Auf der anderen Seite finden sich Verse, in denen dem Mann eine deutliche Vorrangstellung gegenüber der Frau zugewiesen wird, etwa wenn in manchen Situationen zwei Zeuginnen anstelle eines Zeugen verlangt werden (2:282), wenn den Frauen des Propheten geboten wird, dass sie sich in ihren Häusern aufhalten sollen statt sich „draußen“ zur Schau zu stellen (33:33), oder wenn der Mann zum Oberhaupt der Familie ernannt wird und ihm bei Zuwiderhandeln der Frau ein Durchsetzungsrecht zugesprochen wird, dass nach verbreiteter Deutung bis zum Recht auf körperliche Züchtigung reichen kann (4:34). Das ist verwirrend. Konkret: Wie sollen zugleich Liebe und eheliche Gewalt möglich sein ohne die logische Kohärenz (und einiges mehr) zu zerstören?

Hierauf sind schon viele unbefriedigende Antworten gegeben worden. Hier soll nun eine weniger bekannte Antwort aus analytischer Perspektive vorgestellt werden: Der Widerspruch würde sich auflösen, wenn man zeigen könnte, dass die patriarchalischen Passagen den emanzipatorischen als überwindbarer „Spezialfall“ untergeordnet sind, oder umgekehrt. Das wäre gegeben, wenn die Normen von einer der beiden Versgruppen als bedingte Norm ausweisbar wären, während die anderen die unbedingte Regel darstellen. Erstaunlicherweise ist es ausgerechnet 4:34, quasi der „patriarchalischste“ Vers im ganzen Koran, der die tendenzielle Vorrangstellung des Mannes nicht etwa einfach postuliert, sondern rational begründet: zum einen mit der finanziellen Alleinversorgerrolle des Mannes und zum anderen mit gewissen Vorzügen, mit denen Gott „manche Menschen vor manchen“ (baʿḍahum ʿalā baʿḍ) auszeichnete, die aber im Vers in jeder Hinsicht weitgehend unbestimmt gelassen werden. Diese beiden Begründungen lassen sich sprachlich nun auch als Bedingungen lesen, die erst erfüllt sein müssen, damit das klassische Patriarchat „gilt“. So gelesen sagt 4:34 als bedingtes Gebot ungefähr aus: „Der Mann ist insoweit Familienoberhaupt, als er die vollständige Finanzlast für die Frau trägt und es deutliche familienführungsrelevante Kompetenzunterschiede zwischen ihm und seiner Frau gibt.“ Es ist klar, dass das Haltbarkeitsdatum dieser beiden Bedingungen in modernen Bildungsgesellschaften im Wesentlichen abgelaufen ist. Daraus folgt automatisch auch, dass das im zweiten Teil des Verses thematisierte Durchsetzungsrecht des Mannes ebenso entfällt, weil es unter der Voraussetzung der beiden heute kaum noch erfüllten Patriarchatsbedingungen formuliert ist.

Dies ist also eine analytische Möglichkeit, die Züchtigungsthematik am Ende von 4:34 zu entschärfen. Andere übliche Wege sind die direkte historische Kontextualisierung bei gleichzeitigem Verweis auf das Vorbild des Propheten, der für sich eheliche Gewalt ablehnte (hadith-analytisch dargestellt bei Şeker 2014: 135-140), sowie die philologisch umstrittene Uminterpretation des „schlagt sie“ in ein „trennt euch von ihnen“ . Die oben starkgemachte Denkfigur wiederum war exakt dieselbe wie in unserer Diskussion der Kriegsverse: kein Angriff von außen, also kein Krieg. Hier: keine existenziellen Kompetenzunterschiede zwischen Mann und Frau, also keine Vorrangstellung des Mannes und erst recht kein Durchsetzungsrecht. Es war in diesem Fall der Koran selbst, der eine solche bedingte Lesart nahelegte – auch wenn sein Gesamtstil freilich eher die patriarchalen Verhältnisse der Erstadressaten berücksichtigt als unsere heutigen Verhältnisse.

Interessant ist, dass bereits einige Gelehrte der sunnitischen Rechtstradition der Meinung waren, dass der Mann nicht aufgrund seines Mannseins, sondern nur bei Erfüllung der beiden Bedingungen zum Oberhaupt wird (vgl. Özsoy 2004: 130). Auch gab es Gelehrte, die einen Mann, der keinen Beruf besitzt, als mit seiner Frau rechtlich gleichgestellt ansahen (vgl. Takim 2007: 349). So lesen auch heute viele Islamwissenschaftler aus dem Koran ein solches „bedingtes“ und damit rein funktional begründetes und damit zumindest lokal überholbares Patriarchat heraus (vgl. ebd.: 347-348, Fußnote 746). All dies mag gemessen an dem heutigen gesellschaftlichen Standard – also auch der Pragmatik der meisten Muslime – immer noch altbacken oder erzwungen wirken. Aber wir konnten damit immerhin zeigen, dass die widersprüchlich wirkenden Aussagen des Korans anhand des Konzepts des bedingten Patriarchats doch unter einem Prinzip vereinbar sind, und dass die rational prüfbaren Bedingungen dieses Patriarchats in der Praxis oft nicht mehr als gegeben gelten können. Insofern bietet sich dieser Ansatz als Position innerhalb der Dogmatik als weiterer natürlicher Anknüpfungspunkt für eine geschlechtergerechte muslimische Pragmatik an. Und ähnlich wie hier gezeigt, stellt es sich auch mit zahlreichen anderen Punkten des vorgeblich islamisch begründeten Patriarchats dar. 

6.   Die Spezifizierung universeller Aussagen am Beispiel der Verse über Juden und Christen (taḫṣīṣ)

Ein sehr weites Aufgabenfeld für die analytische Koranhermeneutik ergibt sich aus der unter anderem vom Rechtsgelehrten Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī  (gest. 820) getroffene Feststellung, dass gemäß den Regeln der arabischen Grammatik eine kollektive Formulierung wie „die Menschen“ (an-nās) auch dann möglich ist, wenn nur einige wenige Menschen gemeint sind. So heißt es im Koran „Die Menschen haben sich gegen euch versammelt.“ (3:173), womit aber laut aš-Šāfiʿī nicht gemeint sei, dass sich die gesamte Menschheit, sondern eine konkrete Gruppe, die in diesem Falle nur aus vier Personen bestand, sich gegen die damaligen Muslime zum Krieg verbündet hätte (vgl. Şâfi‘î 2007: 37-38). Dieser Punkt ist deswegen bedeutsam, weil  damit auch andere universell formulierte Verse auf einen viel engeren Kontext bezogen sein könnten. In der Tat finden sich im Koran etliche Zitate von „den Juden“ oder „den Christen“ bzw. Aussagen über „die Juden“ oder „die Christen“, die historisch betrachtet oft nur auf eine Handvoll konkreter Personen bezogen waren, nachträglich aber zu dekontextualisierten  Allgemeinurteilen der Art „allen x kommt die Eigenschaft y zu“ verleitet haben. Den Erstadressaten des Korans waren Offenbarungskontext und Sprechweise klar genug, dass sie eben keine universalistischen Schlüsse aus solchen Einzelaussagen ziehen mussten. Die analytische Koranhermeneutik steht jedoch ähnlich wie die historische Koranhermeneutik jedes Mal vor der Aufgabe, die Frage zu beantworten: „Welche bzw. was für x sind genau gemeint, wenn von den x die Rede ist?“

Die Notwendigkeit dieser Frage ergibt sich aus analytischer Sicht schon alleine dadurch, dass bei der intuitiven universalistischen Lesart von „den Juden“ oder „den Christen“ etliche logische Widersprüche im Koran entstehen, wie wir unten sehen werden. Wir versuchen also die sprachlich auf die Gesamtmenge einer Gruppe bezogenen Urteile des Korans auf die „wirklich“ gemeinte Teilmenge derselben Gruppe hin zu spezifizieren (taḫṣīṣ). Dazu suchen wir nach einem spezifizierenden Hinweis (muḫaṣṣiṣ) im Text. Diese Methode des Auslegens gehört zusammen mit dem Abhängigmachen von Bedingungen (taʿlīl) aus dem letzten Abschnitt zum Standardarsenal der klassischen Rechtshermeneutik. Und die Kategorisierung denkbarer „spezifizierender Hinweise“ ist eine Wissenschaft für sich. Die Rechtsgelehrten befassten sich unter anderem mit spezifizierenden Hinweise im betrachteten Vers selbst, mit Hinweisen in anderen Koranversen oder relevanten Hadithen, sowie mit Sprachgewohnheiten, Vernunftargumenten und sogar lokalen Traditionen (ʿurf) als konkrete „Spezifizierer“ (vgl. Şa‘bân 2006: 349-353 und Koca 2011: 181-352). Dies ist immens und zeigt auf, wie selbstverständlich auch in der klassischen Koranhermeneutik kontextualisiert wurde, wenn auch meist auf rein textimmanenter Basis. Es ist erstaunlich, wie unbekannt diese schon über tausend Jahre alten Konzepte heute sind.

Aus dieser Perspektive wird es plausibel, dass entgegen des Eindrucks des Wortlautes von 9:30 nicht „die Juden“ ʿUzayr als Sohn Gottes ansehen, sondern nur eine kleine Gruppe jüdischer Gelehrter, die mit dem Propheten Muhammad diskutierten. Und es wird verständlich, dass nicht „die Christen“ Maria und Jesus zu zwei weiteren Göttern neben Allah erklärten (5:116), sondern nur eine Gruppe arabischer Tritheisten (Vertreter eines „Drei-Gott-Glaubens“). Beide Einschränkungen lassen sich sowohl aus Hinweisen in der islamischen Überlieferung, als auch aus religionshistorischen Erkenntnissen ableiten. Hier liegt also ein empirisch begründetes „Vernunftargument“ vor, das zur Spezifizierung dieser koranischen Aussagen verwendet wird, die bei universeller Lesart ansonsten religionswissenschaftliche Irrtümer transportieren würden.

Eine besondere praktische Relevanz hat diese Art der Auslegung bei der Frage, ob Muslime sich Juden und Christen zu Freunden nehmen dürfen. Berühmt geworden ist dabei die Koranpassage „O ihr, die ihr glaubt! Nehmt nicht die Juden und Christen zu Freunden!“ (5:51). Man kann den Begriff awliyā’ anstelle von „Freunden“ (Adel Khoury) zwar auch mit „Schutzherren“ (Bubenheim/Elyas) oder „Beschützern“ (Abu Rida) etc. übersetzen, aber es bliebe selbst dann noch eine grundsätzliche Distanzierung, die weit an der Lebenswirklichkeit vieler heutiger Muslime vorbeigeht. Im innertürkischen Diskurs wird der Begriff zudem fast immer als „dost“ (naher Freund) verstanden. Nun könnte man diese Passage im Alltag schlichtweg ignorieren, wie es oft praktiziert wird, oder man könnte sie pauschal auf vermutete historische Kontexte zurückführen. Der analytische Zugang würde stattdessen zuerst tiefer in den Text eindringen. Wenn man dies tut, dann sieht man zunächst, dass das Freundschaftsverbot einige Verse später in ähnlichem Wortlaut wiederholt wird, diesmal unter Konkretisierung der besagten Juden und Christen als jene, „die eure Religion zum Gegenstand von Spott und Spiel nehmen“ (5:57). Offensichtlich bezieht die gesamte Passage ab 5:51 Stellung zu bestimmten feindlich gesinnten Juden und Christen, auch wenn dies in 5:51 noch nicht explizit sichtbar ist. So gelesen kann man sagen: 5:57 spezifiziert, kontextualisiert und relativiert den Wortlaut von 5:51, sofern 5:57 als Spezifizierer (muḫaṣṣiṣ) von 5:51 verstanden wird. Verstärkt wird diese Auslegung durch den Vers 5:5 derselben Sure, in der Muslimen ausdrücklich die Ehe mit Jüdinnen und Christinnen erlaubt wird (der umgekehrte Fall wird im Koran nicht thematisiert). Es ist logisch und pragmatisch nicht plausibel, weitreichende Ehen ausgerechnet mit derselben Glaubensgruppe zu erlauben, mit der Freundschaften verboten sein sollen. Ergo beziehen sich die koranischen Distanzierungsaufrufe gegenüber Nichtmuslimen nur auf jene, die Muslimen gegenüber feindselig gestimmt sind.

Aber ist diese „Fallunterscheidung“ nur ein Produkt der auf Kohärenz bedachten Auslegung, oder findet sie sich auch im koranischen Text, speziell in der politisch angespannten Phase in Medina? Eine Antwort liefert hierzu die Passage 60:7-9. Dort heißt es, dass Allah die Freundschaftsschließung (an tawallawhum) nur mit jenen Nichtmuslimen verbietet, die die Muslime bekämpft, vertrieben, oder bei ihrer Vertreibung geholfen haben. 60:7-9 bietet sich also als Fundamentalprinzip für die Freundschaftsfrage an, da hier eine inhaltlich begründete Fallunterscheidung getroffen wird, die nicht auf den Glauben, sondern auf das Verhalten des Gegenübers abhebt. Die anderen Verse zum Thema können nun als fallabhängige Reaktionen auf beide Arten von Situationen verstanden werden. Eine solche Auslegung umgeht nicht nur auf elegante Weise potenzielle innere Widersprüche im Koran, sondern liefert auch einen wichtigen Anknüpfungspunkt innerhalb der Dogmatik für das innerhalb der Pragmatik längst realisierte Miteinander in einer pluralistischen Gesellschaft.

7. Die metaphorische Auslegung (taʾwīl)

Als letztes sei noch auf die in der islamischen Tradition verankerte Möglichkeit hingewiesen, den Wortlaut des Korans metaphorisch zu deuten. Dies ist nach al-Ġazālī dann legitim, wenn es ein wissenschaftlich begründetes Vernunftwissen gibt, das dem Wortlaut einer Koranpassage oder eines Hadithtextes widerspricht (vgl. Griffel 2015). Man beachte dabei, dass Vernunftwissen bei al-Ġazālī nicht nur logische und mathematische Gewissheiten meint, sondern auch das fundierte Erfahrungswissen (taǧrībīyāt) im naturwissenschaftlichen oder medizinischen Bereich. Nach al-Ġazālī ist Erfahrungswissen nicht einfach die Summe von Sinnesdaten, sondern vor allem die von der Vernunft erschlossene Gesetzmäßigkeit dahinter (Turan 2020: 172-174; al-Ġazālī 1971: 58). Vom analytischen Standpunkt ist dieses Konzept zum einen interessant, weil es Konflikte zwischen dem Wortlaut und bewährter Wissenschaft lösbar macht, indem es die entsprechenden religiösen Texte als Metaphern identifiziert. Zum anderen konfrontiert es die islamische Theologie mit der schwierigen, aber weitreichenden wissenschaftstheoretischen Frage, ab welchem Grad an Bewährung einer naturwissenschaftlichen Hypothese man von einer Erkenntnis sprechen kann, die laut al-Ġazālī und vielen anderen Gelehrten ein Abweichen vom Wortlaut von Koran und Hadith legitimiert. Erstaunlich ist wieder die Selbstverständlichkeit, mit der sich Gelehrte vor langer Zeit solchen brisanten Fragestellungen widmeten.

8. Fazit: analytische Koranhermeneutik als exegetisch fundierte Kontexualisierungsmethode

In diesem Beitrag wurde gezeigt, wie sich zahlreiche aktuelle Diskussionen um Themen rund um den Koran im Lichte einer analytischen Koranhermeneutik darstellen. Dabei wurde deutlich, dass ein analytisches Vorgehen zunächst um eine genaue Untersuchung des Wortlautes des Korans und eventueller weiterer Quellen bemüht ist. Das Aufzeigen logischer Strukturen spielte dabei eine entscheidende Rolle. Die hier aufgezeigten Beispiele verdeutlichen, dass der Korantext auch immanent weitreichende Kontextualisierungen zulässt. Wir sahen, dass das Auffinden von Bedingungsstrukturen hinter Normen, Geboten und Verboten (taʿlīl), das Spezifizieren universeller Formulierungen und Urteile (taḫṣīṣ) und die Möglichkeit metaphorischer Auslegungen (taʾwīl) nicht nur eine breite Palette an aktuellen Fragen konstruktiv und gründlich bearbeitbar macht, sondern auch unmittelbar an die reiche exegetische Tradition des Islams anknüpfen kann, was eine nicht zu unterschätzende Stärke dieses Ansatzes ist. Bemerkenswert ist, dass solche Auslegungsweisen ohne Preisgabe des islamischen Dogmas von der Offenbarungsnatur des Korans möglich sind und auch keine vollständige Allegorisierung oder Relativierung des Korans erfordern. Der analytische Ansatz kann Fragen präzisieren, originelle Antwortmöglichkeiten erschließen und diese auf Konsistenz und Kohärenz prüfen. Zugleich schließt er auch historische Kontextualisierungen als Spezialfall des taʿlīl bzw. des taḫṣīṣ nicht aus. Eine ganze Reihe anderer Fragen – etwa die, warum der Koran sich so oft zur Kriegsthematik geäußert hat und warum er zunächst ein offensichtlich patriarchalisch geprägtes Publikum ansprach – lassen sich nur unter stärkerer Einbeziehung historischer Kontexte beantworten. Noch weiterreichende Fragen wie die nach der Bilderwelt und Sprache des Korans erfordern den Blick der historischen Hermeneutik. Und die mit ihren Stärken und Schwächen wohl vertraute islamische Tradition ist zur Schaffung von Kontinuität und zur Vermeidung von Beliebigkeit erforderlich.

Womöglich kann analytische islamische Theologie als Querschnittsdisziplin diese Konzepte in einen gemeinsamen Formalismus integrieren und so zu einer Synthese klassischer und moderner Zugänge in der islamischen Theologie beitragen. Alles in allem muss jedoch wieder daran erinnert werden, dass die mannigfaltigen Herausforderungen, vor denen die islamische Lebenswirklichkeit in der Moderne steht, heute nur scheinbar primär von Klärungen innerhalb der Dogmatik abhängen. Es sind an erster Stelle das Vorfinden würdiger Lebensbedingungen, bewältigbarer Lebensaufgaben und die Erfahrungen von Anerkennung der eigenen Identität, die zur einer positiven und den Menschen zugewandten Lebenshaltung beitragen. Wo dies gegeben ist, werden sich tolerante und freiheitliche Islamverständnisse weiterhin von selbst finden.

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