In meiner Grundschulzeit waren alle Nationalitäten in meinem Freundeskreis vertreten: Deutsche, Italiener, Spanier, Portugiesen – allesamt Klassenkameraden, mit denen wir vormittags auf dem Pausenhof herumrannten und nachmittags entweder am C64 saßen und Giana Sisters spielten oder draußen die Gegend unsicher machten. Türken waren nahezu keine vorhanden. Mein bester Freund war ein Italiener. Er stand mir mit Fäusten bei, als mich zwei deutsche Klassenkameraden fast täglich auf dem Schulweg verprügelten – ich hatte ihren Zorn auf mich gezogen, als ich ihnen unüberlegt erzählt hatte, dass Türken viel mutiger seien als Deutsche. Einer von ihnen hat mich zwanzig Jahre später zu seiner Hochzeit eingeladen. Gelegentlich war ich bei dem Italiener daheim zu Gast beim Abendessen. Oft schlenderten wir vor Sonnenuntergang über die Felder und unterhielten uns über die Heimatstädte unserer Eltern oder über unsere Traumberufe. Er wollte damals Architekt werden und ich Arzt.

Meine Eltern schätzten meinen guten Kontakt zu meinen Klassenkameraden und ich hätte nicht gedacht, dass ich damit jemandes Missfallen erregen könnte – bis ich eines Tages von einem älteren Türken, der sich mit dem in den 90ern aufsteigenden politischen Islam in der Türkei identifizierte, etwas zu hören bekam, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ:

„Du kannst mit diesen Leuten nicht befreundet sein – denn im Koran steht: Nehmt euch nicht die Juden und Christen zu Freunden. Sie sind einander Freunde.“

Ich antwortete, dies könne doch nicht stimmen – bislang hatte ich vom Islam nur Dinge gehört, die ich schön fand, und meine Religion war mir sehr wichtig. Doch meine Freunde waren es mir auch. Und jeder Versuch mich innerlich von ihnen zu distanzieren brach mir das Herz. Ich erledigte das Thema für mich mit der resignierenden Feststellung, dass meine Freunde zwar Christen sind, dass ich mich mit ihnen aber viel besser verstehe als mit den wenigen türkischen Kindern, die ich damals kannte. Gott würde dafür Verständnis haben, dessen war ich mir sicher. Auch war ich mir sicher, dass irgendwas mit dem mir dargelegten Koranvers nicht so war, wie es mir der sendungsbewusste Bekannte vermittelt hatte. Leider war ich damals noch weit davon entfernt der Sache gründlicher auf den Grund gehen zu können.

Jahre vergingen, doch dieser Vers, der der 51. der fünften Sure war, tönte immer wieder aus verschiedenen Ecken – entweder waren es politisierte Religiöse, die von einem islamischen Staat in der Türkei träumten, unter der türkischen Bevölkerung in Deutschland ihre Pamphlete verteilten und auch in manchen Moscheen Einfluss geltend machten. Oder es waren deutsche Islamgegner, die damit den muslimischen Dialogbefürworter widerlegen wollten, oder zu zeigen versuchten, dass der Islam ein Feind der westlichen Welt sei, und dass ein gläubiger Moslem aus religiösen Gründen niemals mit einem gewöhnlichen Deutschen befreundet sein könne. Somit erübrigte sich für diese auch jeder Versuch Muslime als Bürger und Menschen auf Augenhöhe zu betrachten. Denn in ihren Augen wollten sich die Muslime aus Verachtung gegen die „Ungläubigen“ ja ohnehin nicht in die deutsche Gesellschaft eingliedern. Der zitierte Koranvers reichte ihnen als Beweis. Da musste man nicht auch noch Muslime nach ihrer Meinung fragen.

An dem zitierten Koranvers und den beiden genannten Positionen hat sich seitdem nichts geändert. Was sich aber geändert hat, ist mein Wissen von diesem Vers und dem Koran. Dadurch hatte ich die Möglichkeit selbst eine Position zu entwicklen. Stellvertretend an diesem Beispiel kann man eine Menge genereller Dinge über den Koran und den Islam lernen, die für ein deutschlandgerechtes Islamverständnis von großer Hilfe für mich waren. Ich versuche mal die wichtigsten Schritte und Argumente hierbei wiederzugeben, wobei diese teils logisch unabhängig voneinander sind. Fangen wir mit dem direktesten Zugang an.

1) Philologie oder: Steht da wirklich „zum Freund nehmen“?

Mich beruhigte der Fund von deutschsprachigen muslimischen Publikationen, die den Wortlaut des zitierten Verses offen problematisierten. Ich war also nicht der einzige, der über diesen Vers gestolpert war und ihn auf den ersten Blick nicht mit seinen praktischen Gepflogenheiten in Einklang bringen konnte. So wiesen manche deutsche wie türkische Autoren darauf hin, dass der Singular walī des als „Freunde“ übersetzten Wortes awliyāʾ auch etwas anderes, nämlich „Helfer“, „Beschützer“, „Führer“ oder gar „religiöser Führer“ bedeuten kann. Auch Bedeutungen wie „Vertreter“ oder „religiöser Vertreter“ kamen manchen zufolge in Frage. Demnach sagte der Vers also so etwas aus wie, dass man sich Juden und Christen nicht zu spirituellen Führern nehmen dürfe. Damit konnte ich leben.

Die genannte Deutung machte ich mir in einem zweiten Schritt so plausibel: Ich hatte mir eher schlecht als recht mit einem türkischen Do-it-yourself-Lernbuch das Lesen der arabischen Schrift beigebracht. So konnte ich bestätigen, dass im Vers tatsächlich von awliyāʾ die Rede war. Da man im Türkischen das Lehnwort evliyâ auch etwa in der Bedeutung von Gottesnaher verwendet, erschien mir die obige Worterklärung wieder plausibel. Ich möchte hier noch darauf hinweisen, dass auch türkische Begriffe wie velî (Elternteil) und mevlâ (Herr) sich von diesem Begriff ableiten und allesamt wieder auf eine Deutung jenseits von „Freund“ im Alltagssinn hindeuten. Hätte mir jemand früh genug den großen interpretatorischen Spielraum bei solch brisanten koranischen Ausdrücken nahe gebracht, wäre ich wohl auch selbst darauf gekommen, dass das koranische awliyāʾganz verschiedene, also insbesondere auch für mich weniger problematische Bedeutungen haben kann. Die noch spätere Erkenntnis, dass es im Arabischen für Freund naheliegendere Begriffe wie ṣadīq oder sâhib (vgl. 53:2) gibt, festigte ebenfalls mein Vertrauen in diese Deutung.

Es waren also philologische Kenntnisse, mit denen man fundamentalistische Totschlagargumente entschärfen konnte.

2) Konsistenz oder: Wieso darf man jemanden, den man nicht zum Freund nehmen darf, heiraten?

Die nächste Entdeckung machte ich, als ich zum ersten Mal eine Übersetzung der gesamten betreffenden Sure las. Dazu muss man wissen, dass eine unmittelbare Koranlektüre nicht der unter Muslimen übliche Weg ist, wenn man sich über den Islam informieren will. Überhaupt erfreut sich die unmittelbare Beschäftigung mit Koranübersetzungen unter Muslimen nach wie vor geringer Beliebtheit, was die frappierende Unkenntnis viele Muslime vom Koran, der ihnen doch heilig ist, erklärt. Jedenfalls war ich bei meiner Koranlektüre noch in der Sure des genannten Verses auf einen weiteren Vers gestoßen, der aus meiner Sicht eine Interpretation im Sinne von „Nehmt Juden und Christen nicht zu Freunden“ unmöglich machte.

Denn in Vers fünf der Sure fünf wird ausdrücklich die Ehe mit Jüdinnen und Christinnen gebilligt – ohne dass ein Glaubenswechsel ihrerseits nötig wäre. Das klassische islamische Recht der Rechtsgelehrten hat diese Norm bestätigt. Wenn nun ein Muslim eine Christin heiraten darf, und somit nicht nur eine christliche Frau zum Lebenspartner, sondern auch noch ihre christliche Familie zu eigenen Verwandten macht, ohne dass ein Glaubenswechsel verlangt ist, dann ist es schon alleine aus logischen Gründen unmöglich eine Freundschaft mit Menschen christlichen Glaubens zu verbieten. Logik! So einfach ist das.

Als ich eines Tages wieder dem islamistischen Eiferer, der an sich ein netter Kerl war, begegnete, konfrontierte ich ihn stolz mit diesem in unruhigen Nächten ausgebrüteten und von mir als genial befundenem Argument. Die Reaktion war herrlich: „Nein, so etwas kommt nur in Frage, wenn die Frau zum Islam übertritt!“ So holte ich eine Koranübersetzung hervor und hielt im Sure fünf unter die Nase (wie es islamkritische Freunde auch gerne bei mir machten). Auch die nächste Antwort war köstlich: „Nein, dieser Übersetzung traue ich nicht!“ Aber ich hatte mich schon hinreichend aus anderen Quellen darüber informiert, dass dies keine Frage der Übersetzung war.

Es war eine einfache Frage der Logik, oder genauer: nach logischer Selbstverträglichkeit, also nach Konsistenz der Koraninterpretation als Ganzes – gepaart mit einer guten Kenntnis sich scheinbar widersprechender Quellen, die sich jedoch in Wirklichkeit gegenseitig auslegten und halfen nahe liegende Auslegungen vieldeutiger Passagen zu finden.

3) Kohärenz, oder: Was findet man, wenn man nach größeren Zusammenhängen sucht?

Nun gab es auch muslimische Autoren, die weder an der Übersetzung des Wortes awliyāʾ als Freunde schraubten, noch versuchten über den Hinweis auf logische Selbstwidersprüche die von mir gewünschte Entschärfung des problematischen Wortlautes quasi zu erzwingen. Sie verwiesen vielmehr darauf, dass in diesem Vers zwar von Christen und Juden die Rede ist, aber nicht von irgendwelchen Christen und Juden, sondern von ganz bestimmten. Nämlich von solchen, die öffentlich den Glauben der Muslime verspotten. Ihr Argument war ganz einfach. Liest man wenige Verse weiter, dann findet man nämlich:

„Nehmt euch keine Freunde von denen, die über euren Glauben spotten und scherzen, sei es von denen, denen die Schrift vor euch gegeben wurde [also Juden und Christen – HT], oder von den Leugnern.“ (5:57)

Dies ist ein ähnlicher Wortlaut wie der aus 5:51, aber hier findet man eine entscheidenden Erläuterung, nämlich, dass man die Verspotter des islamischen Glaubens aus den Reihen der Christen und Juden nicht zum Freunden nehmen soll. Wenn ohnehin alle Juden und Christen zu meiden wäre, dann wäre das zusätzliche Kriterium in diesem Vers überflüssig.

Wenn man also (zusammen mit allen Islamgelehrten) annimmt, dass Koranverse nicht fertige Gesetze darstellen, sondern, dass sie inhaltlich miteinander verwoben sind und sich gegenseitig erklären, dann kann man selbst noch so eindeutig klingende und problematisch anmutenden Verse systemimmanent verständlich machen und dadurch gegebenenfalls entschärfen. Dies entspricht dem Einbezug des gesamten textuellen Kontextes eines Verses, wie es bereits in der klassischen Theorie der Koranexegese zum adäquaten Koranverständis verlangt wird. Wenn man Sure 5:51 und 5:57 als Einheit liest, dann steht da also sinngemäß:

„Nehmt euch nicht Juden und Christen zu Freunden… jene Juden und Christen, die über euren Glauben spotten und scherzen.“

Es war also die Forderung nach gegenseitiger logischer Abhängigkeit, also nach Kohärenz, mit der man den einen Vers als Auslegung bzw. Einschränkung eines anderen Verses lesen konnte, insbesondere, wenn die Verse zum selben Abschnitt gehörten und somit als zusammenhängend verstanden werden konnten – allesamt hermeneutische Techniken, die auch in der klassischen Koranauslegung bekannt und systematisiert sind.

4) Reduktion oder: Findet jemand das eigentliche Fundamentalprinzip?

Der Koran behauptet mehrmals von sich in irgendeinem Sinne vollständig und vollkommen zu sein. Das mutet in Anbetracht der sprunghaften und bruchstückartig wirkenden Struktur vieler Suren zunächst vielleicht unverständlich an. Versteht man diese Aussage nicht im Sinne einer islamrechtlichen, sondern einer Art logischen Vollständigkeit, dann erweist sie sich doch als sehr fruchtbar. Unsere Arbeitshypothese würde dann wie in Punkt 3 lauten:

Der Koran enthält bei aller Vielfalt nicht nur einzelne, sich stellenweise ergänzende oder erläuternde Aussagen, sondern diese lassen sich logisch zu einem zusammenhängenden, das heißt kohärenten Sinngefüge zusammenführen.

Die Kohärenz muss der Ausleger selbst erkennen bzw. herstellen um auf die eigentlichen relevanten Bedeutungen des Koran zu stoßen.

Richtig schön wird ein kohärent gemachtes Gefüge an Sätzen jedoch erst, wenn sich Fundamentalprinzipien ausmachen lassen, die die große Vielfalt auf einfach Grundsätze zurückführen. Das heißt: Wenn ich bei einer Menge von Sätzen einen finde, der alle anderen in einem bestimmten Sinne beinhaltet (also impliziert), dann kann ich meine eigentliche Arbeit anhand dieses besonderen Satzes fortführen. Denn die anderen Sätze liefern ohnehin keine grundsätzlich neue Informationen, sondern stellen lediglich Anwendungen und Beispiele des allgemeineren Grundprinzips dar.

Diese besonderen verallgemeinerten Sätze nenne ich hier einfach mal Fundamentalprinzipien. Bei einem so komplexen Gefüge wie dem Islam wird man das ganze praktische Gedankengebäude vielleicht nicht auf einen einzigen fundamentalen Satz zurückführen können (bzw. wir verfügen nicht über die Kompetenz dazu), aber es lässt sich dennoch sicherlich eine abzählbare Anzahl besonderer Sätze der beschriebenen Art ausmachen.

Findet man also zum Vers „Nehmt euch die Christen und Juden nicht zu awliyāʾ“ womöglich eine Stelle im Koran, die das fundamentale Prinzip dahinter erläutert? Oder ist dieser Vers selbst schon ein Fundamentalprinzip, also wesentlich für den Islam, wie viele Islamkritiker behaupten? Die gute  Nachricht: Es gibt eine Stelle, die diese Frage in aller nötigen Deutlichkeit zu Ungunsten der Islamkritiker beantwortet:

„Vielleicht lässt Gott zwischen euch und denen von ihnen, die euch feind sind, Freundschaft/Liebe [arab.: mawadda – HT] entstehen. Gott ist mächtig und Gott ist verzeihend, barmherzig.

Gott verbietet euch nicht, gegen die gütig und gerecht zu sein, die euch nicht  wegen eures Glaubens bekämpft oder aus euren Häusern vertrieben haben. Gott liebt fürwahr die gerecht Handelnden.

Gott verbietet euch nur, mit denen Freundschaft zu schließen, die euch des Glaubens wegen bekämpft oder euch aus euren Wohnungen vertrieben oder euch aus euren Wohnungen vertrieben oder bei eurer Vertreibung geholfen haben. Wer mit ihnen Freundschaft schließt, tut Unrecht.“ (60:7-9)

Diese Passagen stammen (glücklicherweise!) aus der kriegerisch aktiven medinensischen Zeit des Propheten, vermutlich aus dem siebten oder achten Jahr nach dem Auszug der Muslime nach Medina (der Prophet ist im 11. Jahr nach der Hedschra gestorben). Wir haben es hier also nicht mit einer Passage aus der mekkanischen Phase zu tun, in der die Muslime generell nicht kämpfen durften. Viele Islamkritiker glauben inbrünstig, dass die friedlichen Verse aus Mekka von prinzipiell kriegerischen Versen der medinensischen Phase abrogiert, d. h. für die Praxis aufgehoben seien. Und sie reagieren aggressiv, wenn man ihnen widerspricht (was nicht für die Seriösen unter den Islamkritikern gilt).

Aber hier haben wir es nicht nur mit einer relativ späten Passage aus Medina zu tun, sondern sie ist auch noch im Kontext des Krieges mit den Götzendienern aus Mekka formuliert. Einer Überlieferung zufolge wollte eine Mutter der Frauen des Propheten, die eine Götzendienerin aus Mekka war, trotz faktischen Kriegszustandes mit Medina ihre dortige Tochter besuchen. Dieser Vers gab dazu die Erlaubnis und erklärte, dass der zu bekriegende Feind nicht einfach der Nichtmuslim ist, sondern der Nichtmuslim, der Muslime bekämpft und aus ihren Wohnhäusern vertreibt bzw. diese Vertreibung aktiv unterstützt, also der militärische Aggressor.

Diese Verse erläutern nicht nur, wann und warum ein Krieg gegen Andersgläubige legitim sein kann, sondern sie klären auch, wann genau eine Freundschaft mit Andersgläubigen verboten ist: nämlich wenn der Andersgläubige mich wegen meines Glaubens bekriegt, mich aus meiner Wohnstätte vertreibt oder den Vertreibern dabei behilflich ist.

Mit dieser Einschränkung kann doch jeder vernünftige Mensche und jede pluralistische Gesellschaft hervorragend leben.

Interessant ist auch, dass in der Formulierung „Gott verbietet euch nur, mit denen Freundschaft zu schließen…“ für das Schließen der Freundschaft eine andere grammatische Form des Begriffs awliyāʾ verwendet wird (an tawallavhum). Das war gerade jenes Wort, das im ersten Auslegungsvorschlag eine brisante Rolle gespielt hatte und durch Vergleich mit anderen möglichen Wortbedeutungen relativiert wurde. In der hier diskutierten Passage aus Sure 60 wird diese Brisanz durch den sehr dichten Differenzierungsvorgang aufgehoben ohne auf Bedeutungsalternativen wie unter 1) zurückgreifen zu müssen. Unter 3) musste man in Sure 5 einen Abschnitt von ca. 7 Versen zusammen betrachten, um zu einer ähnlichen Entschärfung zu gelangen. Diese Stelle hier liefert wiederum eine umittelbare Klärung innerhalb weniger Zeilen.

Hier in Sure 60 wurde als Hinderungsgrund für Freundschaften die militärische Aggression des Gegenübers ausgemacht. Dort in Sure 5 wiederum war es die öffentliche Verspottung des Glaubens der Muslime, die einer Freundschaft im Wege standen. Das leicht unterschiedliche Abgrenzungskriterium von Freund und Feind erklärt sich durch den Offenbarungszusammenhang: Im einen Fall (Sure 60) lag bereits ein Kriegszustand vor, und die Differenzierung bezog sich entsprechend auf diesen Kontext. Im anderen (Sure 5) Fall hingegen wird kein aktueller Kriegszustand vorausgesetzt, wodurch sich ein feinerer Kontext der Differenzierung ergibt. Dennoch kann die Passage aus Sure 60 als die grundlegendere aufgefasst werden, da sie die roten Linien unter extremeren Bedingungen und zugleich differenzierter gezogen hat.

Wir haben hier übrigens noch mehr gezeigt, als wir ursprünglich zeigen wollten: Denn der Vers 60:9 spricht klar aus, dass selbst eine Freundschaft mit friedlichen und gut gesinnten Götzendienern nicht verboten ist. In ihm heißt es ja: „Gott verbietet euch nur, mit denen Freundschaft zu schließen, die euch des Glaubens wegen bekämpft [haben]…“ Da es in Sure 60 ja gerade um Götzendiener geht, kann ich mich unter Berufung auf diesen Vers also vorwagen und die Vermutung äußern, dass der Autor des Korans auch Freundschaften mit den Götzendienern unter den genannten Bedingungen nicht verbieten wollte. Hinter den drastischen Einschränkungen bezüglich der Nichtmuslime im traditionellen Islamkozept stehen andere Mechanismen als der Koran.

Dieser Aspekt ist wichtig, da wir es in unserer Gesellschaft nicht nur mit Christen und Juden, sondern auch mit Atheisten, Agnostikern und Angehörigen anderer Religionen zu tun haben. Diese sind natürlich in fast allen Fällen keine „Götzendiener“. Jedoch ist der koranische Hinweis auf die Götzendiener wichtig, da diese auch nicht zum Volk der Schrift gezählt werden und damals sogar die Hauptfeinde des Islams waren. Wenn selbst mit diesen unter Bedingungen des Friedens und des Respekts Freundschaften nicht verboten sind (60:9), dann sind diese im Kontext von ethisch aufrichtigen Agnostikern und Atheisten sicherlich auch nicht verboten.

Ich weiß, dass es hierfür weniger koranisches Belegmaterial gibt. Aber das, was vorliegt, reicht aus, um den Schritt in diese Richtung zu begründen. Ein Blick in den Alltag zeigt, dass mein Szenario ein durchaus realitätsnahes und im Regelfall unproblematisches ist, sofern man nicht darauf besteht eine Gesellschaft nach der Vorstellung der klassischen Rechtsgelehrten zu schaffen.

Dies hier ist also mein Ergebnis:

Echte Freundschaft mit Nichtmuslimen ist nur dann verboten, wenn letztere mich (bzw. meine Nächsten) zu Unrecht auf eine entwürdigende Weise demütigen, bekämpfen oder mich wegen meines Glaubens verfolgen oder vertreiben.

Die nächste Aufgabe wäre es nun zu zeigen, dass alle Koranpassagen zum Verhältnis zu Andersgläubigen mit diesem Fundamentalprinzip kohärent gemacht werden können. Da ich in diesem Text versucht habe auf die fundamentalsten Aussagen im Koran zurückzugreifen, begnüge ich mich hier mit dem Hinweis darauf, dass die hier dargestellten kohärentistischen Methoden vermutlich stetig auf dem Koran fortgesetzt werden können.

Es sei noch etwas relativierend angemerkt, dass es durch die Bemühung interpretatorischer Techniken immer möglich ist einen Text auf einen bestimmten Sinn hin kohärent zu machen – jedoch gibt es nur wenige Möglichkeiten einen Text auf einfache und natürliche Weise, also ohne ständige Zusatzannahmen und Ausnahmen und unbeweisbare Abrogationsbehauptungen kohärent zu machen. Ich behaupte, dass die grundsätzlich problematisch wirkenden Passagen des Korans auf eine einfache und natürliche Weise auf plausible und annehmbare Fundamentalprinzipien hin kohärent gemacht werden können, so wie ich es hier vorgeführt habe. Es bleiben in jedem Interpretationsansatz, auch in denen der klassischen Gelehrten, Koranstellen, mit denen man sich schwerer tut – durch bloßen Verweis auf schwierige Stellen wird der von mir vertretene kohärentistische Ansatz also keineswegs widerlegt.

Die Frage lautet nur: Welche Auslegung ist die plausibelste und lässt sich mit dem restlichen Text am besten vereinbaren?

Und ja: Ich vermute, dass wir hier eine sehr plausibele und universalisierbare Deutung gefunden haben.

Das heißt: Jene, die die hier diskutierten Koranverse nicht wie ich, sondern als prinzipielles Freundschaftsverbot mit Juden und Christen auslegen, finden auch Argumente für ihre Sichtweise. Jedoch geraten diese in viel größere Widersprüche und Spannungen im Text, als es der hier vorgestellte Ansatz tut. Alleine schon die Erlaubnis Jüdinnen und Christinnen ohne Konversionsdruck zu heiraten macht die freundschaftsfeindliche Lesart des Korans unwahrscheinlich.

Es ist also das Ausfindigmachen von fruchtbaren Fundamentalprinzipien im Koran, die die anderen Verse implizieren bzw. erläutern, womit Unklarheiten beseitigt und problematische Stellen koranintern „entschärft“ werden können. So wird eine inhaltliche Reduktion einzelner Aussagen auf allgemeinere Prinzipien möglich. Dies setzt natürlich eine gute Kenntnis des gesamten Textes und seiner Interpretationsmöglichkeiten voraus.

5) Schließlich: Das pragmatistische Geständnis

Nun haben wir viel über Koranauslegungen diskutiert. Ich habe versucht plausibel zu machen, dass ein Muslim durchaus mit Nichtmuslimen in der alltäglichen Wortbedeutung befreundet sein kann, und dass die koranische Toleranz hierzu viel größer und weiter gefasst ist, als es auf den ersten Blick scheint. Ferner habe ich versucht plausibel zu machen, dass die eigentlichen Normen und Bedeutungen des Korans sich erst erschließen lassen, wenn man den Text mit seinen eigenen Querbezügen und unter konsequentem Einbezug des historischen Kontextes liest. Schließlich war es mir wichtig herauszuarbeiten, dass eine ganze Reihe der hierzu nötigen Auslegungstechniken zum selbstverständlichen Reportoire der klassischen islamischen Wissenschaften gehört. Auch wenn die klassischen Gelehrten in manchen Punkten zu anderen Ergebnissen kommen, als wir: Die meisten hier und heute scheinbar problematischen Aussagen des Korans lassen sich durch Verweis auf den Koran selbst lösen, und die klassischen islamischen Wissenschaften geben uns wichtige Hinweise, wie das auf eine islamisch vertretbare Weise möglich ist.

Die hier vorgestellte Argumentation gipfelte im Versuch jene Verse des Korans ausfindig zu machen, die als Fundamentalprinzipien gelten können, weil sie die restlichen koranischen Aussagen implizit beinhalten. Und sie endete in der Feststellung, dass diese Fundamentalprinzipien viele scheinbare Probleme auf rational nachvollziehbare Weise differenzieren und schließlich lösen.

Aber:

Ich möchte ehrlich sein. Der tiefer liegende Grund, warum ich mit Nichtmuslimen faktisch Freundschaften schließe, ist wahrscheinlich keines der Argumente, die ich dargelegt habe, ja nicht einmal die Gesamtheit dieser Argumente.

Vielmehr ist es wohl die Tatsache, dass ich mit diesen Menschen aufgewachsen bin. Dass ich als kleines Kind mit ihnen im Kindergarten Lieder gesungen und gespielt habe. Dass ich bei ihnen als Kind daheim willkommen war, und dass sich selbst ihre Eltern Zeit für mich genommen habe. Dass ich durch sie die Welt der Büchereien, der Computer und der Wissenschaften entdeckt habe. Dass ich mit ihnen durch Dick und Dünn gegangen bin, in der Pubertät und darüber hinaus. Dass sie für mich da waren, wenn ich sie gebraucht habe, so wie auch meine Familie und viele Muslime für mich da waren, als ich sie gebraucht habe. Dass ich durch sie mit Philosophie, mit Musik und mit theoretischer Physik vertraut wurde. Dass wir gemeinsam gelacht und gesungen haben, dass wir philosophiert und gestritten haben. Dass ich durch sie gelernt habe meinen Glaube sowohl aus einer Innen- als auch aus einer Außenperspektive zu betrachten. Dass ich erkannt habe, dass jedem sein Gewohntes als das Naheligendste und Selbstverständlichste erscheint. Dass mir also klar war, dass Nichtmuslime nicht automatisch bösartige Leugner einer offensichtlichen Wahrheit sein müssen, sondern dass die meisten von ihnen unter völlig anderen Eindrücken aufgewachsen sind als ich, sodass es gänzlich nachvollziehbar wird, dass sie sich in ihrem Leben anders entwickeln als ich.

Schließlich ist es die Tatsache, dass ich in allen Phasen meines Lebens die Erfahrung gemacht habe, dass Nichtmuslime manchmal die besseren Muslime sein können.

Und was ist nun die folgerichtige menschliche Antwort auf Gutes, das einem von seinem Mitmenschen widerfährt?

„Soll der Lohn des Guten anders als Gutes sein?“ (Sure 55:60)

Das sind meine biografischen Gründe für meine Freundschaften mit Nichtmuslimen. Diese waren erst der Auslöser dafür, dass ich mir die Mühe gemacht habe mich in dieser Hinsicht auch durch die Theorie des Islams zu arbeiten.

Aber läuft das nicht immer so im Leben?

Ich rate jedem in dieser Hinsicht dazu ehrlich zu sein und nicht den falschen Eindruck zu verbreiten, dass wir alles, was wir tun, nur tun, weil es der Islam das genau so von uns möchte. Bei vielen – aber nicht allen – Dingen ist es vielmehr so, dass wir etwas tun wollen und uns quasi nachträglich erst versuchen theoretisch abzusichern.

Das bedeutet aber nicht, dass sich jeder alles so zurechtbiegen kann oder soll, wie er möchte. Denn wer so vorgeht, betrügt sich letztlich nur selbst. Ein solches Verhalten, also die bewusste Übergehung, Verdrehung oder Leugnung von etwas Offensichtlichem, ist eines der Dinge, die mit einem aufrichtigen Glauben wohl für immer unvereinbar bleiben werden.

Vielmehr sollte der innere Wunsch nach etwas im Leben zum Anlass genommen werden sich ausführlicher mit der Theorie zu befassen. Und hinterher sollte man ehrlich genug sein um sich einzugestehen, wo die Vereinbarung klappt, und wo sie offensichtlich nicht klappen kann.

Wie man dann letztlich leben will, ist nochmals eine andere Frage.

Ich danke Gott dafür, dass er mir die Möglichkeit  gegeben hat mich diesem fundamentalen Thema zu widmen und zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Ich hätte dabei auch scheitern können – und hätte dann mein positives Verhältnis zu den Deutschen um mich herum wahrscheinlich trotzdem fortgeführt, allerdings mit einem weinenden Auge, also in dem Bewusstsein, dass meine Religion diese Freundschaften eigentlich verbietet.

Doch meine Auseinandersetzung mit dem Koran hat mich zu dem Punkt gebracht, dass ich glaube im Punkt Freundschaften mit Nichtmuslimen auch islamisch auf der richtigen Linie zu liegen. Natürlich ist dies hier nur eine kurze Abhandlung und bedarf eigentlich einer noch viel umfassenderen Analyse, wenn man es genau haben möchte. Aber aktuell ist mir das hier schon genau genug.

Nunmehr bleibt mir nur noch darauf hinzuweisen, dass das hier Dargestellte nicht beansprucht eine Art Fatwa zu sein. Ich stelle hier lediglich die Argumente vor, nach denen ich teilweise lange gesucht habe, und die vielleicht dem einen oder anderen nützen können. Wie ich jedoch dargestellt habe, glaube ich zwar, dass diese Argumente gültig sind, dass ich jedoch auf diese erst aufmerksam geworden bin, weil ich nach einem islamischen Fundament für eine innere Überzeugung gesucht habe.

Insofern gebe ich wie gesagt gerne und offen zu, dass bei mir der Wunsch der Vater des Gedankens war. Aber das ist insofern unproblematisch für mich, als dass ich ja schließlich die guten Argumente gefunden habe. Die Geltung (Wahrheit) dieser Argumente hängt also nicht von ihrer Genese (Entstehungsgeschichte) ab. Das wäre wieder eine meiner Arbeitshypothesen.

Von daher kann die pragmatistische Erkenntnis lauten: Es gibt im Leben meist vorreligiöse Entscheidungen, die die anschließende Sichtweise auf die Religion vorprägen. Je nachdem wie diese Vorentscheidungen ausfallen, kann die logisch spätere Religion diese Sichtweise mal mehr, mal weniger bestätigen.

In jedem Fall gilt, dass man den Mut haben sollte seinem inneren Gefühl vorerst mal Vertrauen zu schenken und beim anschließenden Studium der Religion hartnäckig genug zu sein um bis zum Ende durchzuhalten und sich nicht von Nachplapperern und Betonköpfen entmutigen zu lassen.

Ich wünsche allen religiösen Muslimen, dass sie nicht erst lange suchen müssen, um auf Antworten zu stoßen, auf die man auch selbst kommen könnte, wenn man etwas mutiger und beharrlicher wäre. Dazu müssen wir jedoch die gesamte islamische Geisteskultur auf Vordermann bringen und dem Endverbraucher einfacher zugänglich machen – und das ist eine Menge Arbeit.

Es ging mir hier nur um den Nachweis, dass man eine Freundschaft mit Nichtmuslimen systematisch und fundiert mit dem Koran in Einklang bringen kann. Diese Art des theoretischen Vorgehens ist für den theoretisch interessierten Muslim und Nichtmuslim interessant. Für alle anderen, also die erdrückende Mehrheit, reicht die zwischenmenschliche Begegnung in der Wirklichkeit da draußen und die Beachtung der ganz gewöhnlichen Regeln des respektvollen Miteinanders. Das bewegt viel mehr als eine noch so fundierte Koranauslegung.

Darum: Habt euch lieb und sagt es euch gelegentlich mal.

Und grübelt nicht zu viel über Ideologie und Weltanschauung, wenn es nur darum geht, dass sich Menschen mögen und gerne Zeit miteinander verbringen sollen. Die Zeit hier auf der Welt ist zu kanpp um sich und anderen das Leben schwer zu machen.

In diesem Sinne, wassalām…

„Preis sei Dir, wir haben nur Wissen von dem, was Du uns lehrst; siehe, du bist der Wissende, der Weise…“ (2:32)