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Jenseits, Pflicht und Glücksstreben bei Kant und im Koran

am Samstag, 04 Juni 2011. Geschrieben in Islamisches Leben, Koran, Koranische Kosmologie, Philosophie, Sinn des Lebens, Theologie

Im Folgenden präsentiere ich euch den Beginn des Schlusswortes aus Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft, einem der zentralen Werke der abendländischen Moralphilosophie überhaupt. Kant stellt hier in wunderschöner Prosa den Menschen in Bezug zur Natur auf der einen und Moral auf der anderen Seite und kommt zum Ergebnis, dass es die Moral im Sinne eines Handelns aus reinem Pflichtbewusstsein ist, die dem Menschen seinen eigentlichen Wert verleiht. Dieser Wert hebt den Menschen laut Kant über alles Vergängliche ab und weist auf eine ewige Seite von ihm hin - eine Seite, die die Vernunft zwar nicht beweisen, aber erahnen kann.

Kant formuliert in seinen moralphilosophischen Werken sowohl als Religions- wie auch als Moralphilosoph viele Gedanken, die nach meinem Dafürhalten eine verblüffende Ähnlichkeit mit einigen zentralen Positionen der islamischen Theologie haben. Als da wären:

* die Betonung des Vorrangs der praktischen vor der theoretischen Vernunft: Das Handeln in der rechten Absicht, d. h. in reinem Pflichbewusstsein genießt Vorrang vor der reinen Vernunfterkenntnis ("Primat der praktischen Vernunft").

* damit zusammenhängend: Die Skepsis gegenüber einer auf reinen Vernunftbeweisen gegründeten Metaphysik.

* die tiefe Skepsis gegenüber einer an Eigennutz oder Erwartungshaltung orientierten Moral.

* die Annahme einer jenseitigen Welt, in der dem moralisch Handelnden Glückseligkeit zuteil wird, wobei nach Kant der Zweck des moralischen Handelns jedoch nicht ist diese Glückseligkeit zu erlangen, sondern dieser Glückseligkeit würdig zu werden. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.

Zu letzterem Punkt: Die inhaltlich am ehesten mit "der Glückseligkeit würdig werden" vergleichbare Formulierung in der islamischen Theologie lautet meiner Meinung nach "das Wohlgefallen Gottes erlangen". Denn wer der Glückseligkeit würdig geworden ist (Kant), ist noch nicht zwangsläufig in den Genuss der Glückseligkeit gekommen, ebensowenig wie der, der Gottes Wohlgefallen erlangt hat (Islam). Man kann also das Erlangen von jenseitiger Glückseligkeit sowohl bei Kant, als auch im Islam, von der hohen Qualität, die ein Mensch erreicht hat, logisch zunächst trennen. Die danach eintrende Glückseligkeit in Form eines Reichs Gottes als höchstes Gut (Kant), oder eines Paradieses (Islam) ist in beiden Fällen nicht der Gegenwert des Handelns, sondern ein Geschenk Gottes, dass laut Hadith selbst dem Propheten Mohammed einzig und allein als Gunsterweis Gottes überreicht wird und nur symbolisch als Gegenleistung verstanden werden kann. Hier darf man die intuitive und an Alltagserfahrungen orientierte Bildsprache nicht mit dem analytischen Kern des Sachverhaltes verwechseln.

Beispielhaft für den Vorrang des Wohlgefallens Gottes im Kern des Islams vor allen jenseitigen Belohnungen und Bestrafungen ist eine Erzählung über die islamische Mystikerin Râbi'a al-Adawiyya (gest. 801 n. Chr.). Sie soll eines Tages mit einer Fackel und einem Eimer Wasser durch die Straßen Basras gelaufen sein und auf die Frage, was das zu bedeuten habe, geantwortet haben:

"Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen.“

Kant übersah diese subtile Parallele zwischen dem Vorrang der Pflicht vor der Belohnungserwartung in seiner Philosophie und dem islamischen Vorrang des Wohlgefallens Gottes vor Belohnungserwartung (auch wenn Rabi'as Satz wieder bildlich von Gottes Schönheit als Ziel spricht, aber im Grunde nichts anderes als das von Sinnlichkeit abstrahierte Wohlgefallen Gottes meint). So stellt Kant "Mahomets Paradies" aufgrund seiner scheinbaren sinnlichen Überdeutlichkeit und angeblichen Aufhebung des reinen Pflichtgedankens durch die sinnliche Belohnungsaussicht als eines der krassen Gegenkonzepte zu seinem weitgehend abstrakten und unvorstellbar gelassenen Jenseitsbegriff dar. Er deutet in seiner Kritik der praktischen Vernunft in wenigen Zeilen einige Gründe für diese Haltung an - ich denke jedoch, dass seine Kritik nur für sehr einfache Modelle von islamischer Theologie wirklich stichhaltig ist.

Sicherlich hat Kant sich wie viele andere auch von den plastischen, aber symbolisch gemeinten Beschreibungen des Jenseits im Koran irritieren lassen und aus nachvollziehbaren Gründen versäumt in die Tiefen von Koranexegese und islamischer Theologie wie Mystik einzudringen, die deutlich machen, dass es zumindest dem vollkommenen Glauben eben nicht um Belohnung geht.

So dachte Kant, wie auch heute viele Muslime und Nichtmuslime denken, und was der Koran auf den ersten Blick zu lehren scheint, dass der Muslim gut handele um im Jenseits von Gott mit sinnlichen Genüssen belohnt zu werden. Diese äußerst grobschlächtige Auffassung bleibt auf naive Weise an der für das einfache Volk verwendeten Bildsprechweise des Korans gemäß dem kulturellen Umfeld der Araber zu Zeiten des Propheten hängen und wird dem Gesamtgebäude islamischen Denkens nicht gerecht. Sie verkennt, dass der Koran selbst auf den Symbolcharakter seiner Jenseitsschilderungen aufmerksam macht (z. B. 2:26, vgl. auch den exegetischen Kommentar von Elmalılı Hamdi Yazır zu diesem Vers).

Ebenso übersieht diese Auffassung, dass die höchste Glückseligkeit im Jenseits laut Koran nicht der sinnliche Genuss, sondern wieder eben jenes eher abstrakte Wohlgefallen Gottes ist, ergänzt um den wenig bekannten, aber bedeutsamen Zusatz, dass auch die Menschen Wohlgefallen an Gott finden mögen:

"Wohlgefallen hat Gott an ihnen, und sie sollen an ihm Wohlgefallen finden. Dies ist die große Glückseligkeit!" (5:119)

Wohlgefallen darf hier nicht sinnlich missverstanden werden: Mit gegenseitigem Wohlgefallen ist nach meinen Begriffen Einklang gemeint, wobei ich das nicht qualitativ näher umschreiben kann. Wie gesagt umfasst die Ebene des Sinnlichen nur eine einfache Stufe dieses Einklangs. Auf der intellektuellen Stufe könnte Einklang bedeuten, dass man Gott im Sinne der Gnostiker erkennt, oder gemeinsam eine (Ko-?)Existenz als reine Vernunftwesen antritt (Kant). Im mystischen Sinne kann Einklang Verschmelzung mit Gott bis hin zur totalen Selbstauflösung im Ewigen bedeuten. Ich persönlich bleibe hierin inhaltlich gerne Agnostiker: Ich weiß nicht, welche der hier genannten Deutungen auf der höchsten Stufe von Wirklichkeit zutrifft. Genau genommen interessiert es mich auch nicht, da ich es mir ohnehin nicht vorstellen könnte ("euch wurde nur wenig Wissen gegeben" (17:85), "Es gibt nichts, was wäre wie Er." (42:11)).

Wichtig ist für mich die Einsicht, dass das Jenseits im Koran nur symbolisch erfasst wird, und dass eventuelle sinnliche Freuden im Jenseits nur die äußerste Hülle der eigentlichen Gemeinschaft mit Gott darstellen. Und natürlich ist der koranische Gedanke für mich wichtig, wenn nicht gar am wichtigsten, dass es so etwas wie ein letztes Gericht gibt, und dass unser hiesiges Handeln über den weiteren Fortgang der individuellen Gemeinschaft mit Gott in einem wie auch immer zu denkenden Jenseits entscheidet. Alles andere sind interessante, aber nicht zu überschätzende Details und Symbole, die vor allem das Undenkbare vorstellbar, kommunizierbar und in die eigene Lebenspraxis integrierbar machen sollen. Das ist meine Erklärung für die intensive Bildsprache des Korans.

Nochmals zurück zu Kant: Klarere Differenzen zwischen Kants Moralphilosophie und dem islamischen Begriff des Guten gibt es bei der Frage nach der möglichen Rolle von Offenbarung bei der Bestimmung von Pflicht. Ich werde bei anderer Gelegenheit versuchen zu zeigen, wie man eine Zwischenposition zwischen einer reinen praktischen Vernunft im Sinne Kants und einer zunächst auf Offenbarung gegründeten Moral wie im klassischen Islamverständnis einnehmen kann.

Hier sei nur darauf hingewiesen, dass es dazu einerseits einer Analyse der rationalen Momente der islamischen Rechtswissenschaft und Erkenntnistheorie, und andererseits einer kritischen Befragung des durch Gelehrtenhand kodifizierten islamischen Rechts bedarf. Denn was uns die islamische Gelehrtentradition überliefert, ist ebensowenig reiner Gotteswille wie Kants Moralphilosophie reine Vernunftnotwendigkeit wäre.

Nun aber zum eingangs angekündigten Zitat Kants.

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Kommentare (3)

  • Ibn Rainer
    Ibn Rainer
    05 November 2012 at 17:17 | #

    As-salamu alakyum wa rahmatullah

    Ich bin bei meiner Internetrecherche zu einem Kant-Zitat auf Ihren Blog gestoßen und hege die Hoffnung, dass Sie mir eventuell behilflich sein könnten.

    Ich las kürzlich die deutschsprachige Übersetzung des Buches "La Tahzan - Sei nicht traurig" des Saudis Dr. Aaidh ibn Abdullah al-Qarni, dass im arabischsprachigen Raum ein Bestseller ist.
    (Hier eine sehr umfangreich Leseprobe als PDF zum runterladen: http://www.islamicbulletin.com/german/details.aspx?id=188)
    Die Tragik der deutschsprachigen Version liegt darin, dass diese nicht direkt aus dem Arabischen übersetzt wurde, sondern lediglich von der englischen Übersetzung.

    Auf der Buchseite 178 (entspricht der PDF-Seite 172) zitiert Dr. al-Qarni Immanuel Kant, jedoch ohne jeglichen Quellenverweis. Die Schwierigkeit, die Quelle und somit den Originaltext zu finden, ergibt sich eben aus der Tatsache, dass der Wortlaut durch die zweifache Übersetzung wohl gelitten hat.

    Sie, als ehemaliger Philosophiestudent und auch sonst recht gebildeter Zeitgenosse, könnten mir bei der Quellensuche gewiss äußerst hilfreich sein, es passt nämlich inhaltlich zu Ihrem obigen Text.

    Hier das verfälschte Kant-Zitat:
    "Das Drama dieses Lebens ist nicht komplett. Es muss einen zweiten Schauplatz dafür geben, denn wir sehenden Tyrannen und seine Opfer, ohne zu sehen, dass Gerechtigkeit ausgeübt wird. Wir sehen den Eroberer und die Bezwungenen, ohne dass die Letzteren sich rächen. Es muss daher eine andere Welt geben, in der die Gerechtigkeit ausgeführt wird."

    antworten
    • Hakan Turan
      Hakan Turan
      06 November 2012 at 23:36 | #

      Alaykum salâm wa rahmatullahi wa barakatuhu,

      danke für Ihre Nachricht - das Zitat ist mir leider nicht bekannt, auch wenn ich mich an etwas leicht Ähnliches zu erinnern meine. Wenn ich auf etwas Derartiges bei Kant stoße, dann melde ich mich bei Ihnen. Was auf alle Fälle stimmt ist, dass Kant die Unsterblichkeit der Seele (und damit ein Jenseits), die Existenz Gottes und den freien Willen als "Postulate der praktischen Vernunft" betrachtete, also als Dinge, von deren Existenz der moralisch Handelnde Mensch ausgeht bzw. ausgehen muss, wenn die Moral ihren hohen Ansprüchen umfänglich genügen soll. Eine Jenseitserwartung ist bei Kant zwar nicht das Prinzip bzw. Ziel der Moral, aber dafür eine "Triebfeder" für den Menschen, der umfänglich den Gesetzen der Moral genügen will. Das kann man in Kants "Kritik der praktischen Vernunft" nachlesen.

      antworten
      • Ibn Rainer
        Ibn Rainer
        07 November 2012 at 10:45 | #

        As-salamu alaykum wa rahmatullah

        BarakAllahu fiek.
        Danke für die Antwort.
        Ich habe im I-Net einen weiteren Hinweis au den Text entdeckt, der aber anscheinend die falsche Quelle angibst.

        http://books.google.de/books?id=qKoAAAAAcAAJ&pg=PA148&lpg=PA148&dq=%22eine+andere+Welt+geben%22+kant&source=bl&ots=Xj4tDRM-yV&sig=fS3Y2yBKs8m1M_G8orwkblU5bmk&hl=de&sa=X&ei=lzmaUPKAMPPb4QTanID4DA&sqi=2&ved=0CDAQ6AEwAw#v=onepage&q&f=false

        Dort wird im Zitat in der Bildmitte das Buch "Kritik der praktischen Vernunft" mit den Seiten 207 und 208 genannt. Jedoch konnte ich auch das so nicht finden.

        Sorry wenn ich nerve.

        antworten

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