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Die Systembesessenheit der Islamisten (von Mustafa Akyol)

am Freitag, 30 September 2011. Geschrieben in Fundamentalismus, Islam, Türkei

Ich habe eine aktuelle Kolumne des türkisch wie englisch publizierenden Intellektuellen Mustafa Akyol übersetzt, in der er anlässlich der von Erdoğan losgetretenen Säkularismusdebatte seine Kritik am Islamismus zusammenfasst. Ich teile Akyols Kritik, dass der Islamismus, der sich für einen islamischen Staat mit islamischem Gesetz einsetzt, nicht nur menschliche Interpretationen des Islams unzulässigerweise zu verbindlicher Religion erklärt, sondern dass er in manchen religiösen Kreisen auch zu einer Geistesstarre und Blindheit gegenüber realen Problemen geführt hat.

Mustafa Akyol versteht sich explizit als Vertreter eines islamischen Liberalismus (Homepage hier). So steht er politisch für eine freiheitliche Demokratie und religiös für ein Islamverständnis, das nicht als politische Ideologie formuliert ist, sondern primär die Spiritualität und Moral in den Vordergrund stellt und Mut zu einer fundierten Reform hat. Neben seiner positiven Westorientierung steht er traditionellen muslimischen Kreisen freundschaftlich gegenüber. Und  er bemüht sich um eine argumentative, kritische, aber stets in respektvollem Ton geführte Auseinandersetzung mit den Vertretern des moderaten Islamismus in der Türkei, die den säkularen Staat nicht bekämpfen, ihn jedoch als ein von den Umständen aufgezwungenes und zu ertragendes Ungemach betrachten. (Der unversöhnliche radikale Islamismus ist im Unterschied zum moderaten Islamismus und dem konservativ-demokratischen AKP-Modell in der heutigen Türkei übrigens eine vernachlässigbare Größe).

Ein autoritärer Laizismus ist Akyol ebenso fern wie die Arroganz mancher angeblicher Religionsreformer, denen es nicht um eine authentische Integration von Islam und Moderne, sondern um eine Diskreditierung religiöser Muslime geht. So zumindest habe ich Mustafa Akyol verstanden und ich hoffe, er enttäuscht mich nicht. Denn das meiste, was ich von ihm weiß, ist mir sympathisch und geläufig - und wir brauchen viel mehr davon. Ferner bestätigt mir dies wieder eines: Der Islam befindet sich nach Jahrzehnten der intellektuellen Starre und Jahrhunderten der Fremdbestimmung in einer Phase des emsigen Schaffens und des geistigen Aufbruchs - und die jungen Muslime finden sich dabei vor einem riesigen Trümmerhaufen an ungelösten Fragen, an von Ideologen gesetzen Tabus und Dogmen und an unverarbeiteten Traumata wieder.

Ich beobachte auch Folgendes: Die Muslime emanzipieren sich zunehmend sowohl vom Druck des während des kalten Krieges ausgewachsenen und überkommenen Islamismus, als auch von einer Dämonisierung oder bedingungslosen Verherrlichung des Abendlandes - üble Komplexe, die jede sachliche Auseinandersetzung unmöglich machen. Die Debatte über Reformmöglichkeiten und -notwendigkeiten innerhalb des Islams und über die Möglichkeiten freiheitlich-islamischer Orientierungen ist ebenfalls überall in vollem Gange.

Jedoch tut sich diese Debatte schon in ihren Grundlagen sehr schwer, nicht zuletzt, weil es eine große und anhaltende Begriffskonfusion in den Debatten gibt (Was bedeuten Begriffe wie liberal, säkular, demokratisch und islamisch?), weil es konzeptuelle Probleme gibt (Wieviel am Islamkonzept der Tradition muss heute noch als Islam vertreten werden? Kann etwas, dass dem säkularen Westen entstammt, von den Muslimen als Maßstab genommen werden?), und weil es überall an kühlem Kopf (argumentieren oder hetzen?), an Fairness (Wer darf wo reden oder schreiben?) und an Kompetenz (beharrliche Traditionstreue oder kritisch eingesetzte, und fundierte Kenntnisse?) mangelt. Dennoch müssen wir da durch, und wir werden da inşallah (so Gott will) auch durchkommen, und wenn das ganze noch hundert Jahre dauert. Es folgt nun Mustafa Akyols Text. (Danke an Burak für nützliche Infos und den interessanten Youtube-Link zu Mustafa Akyol).

 

Mustafa Akyol: Die Systembesessenheit der Islamisten

"Neulich saß ich mit einigen Freunden zusammen, die seit Jahrzehnten in der [türkisch-islamischen] Risale-i-Nur-Bewegung aktiv sind. Wir kamen auf das islamistische Denken in der Türkei zu sprechen. Einer der Anwesenden meinte: 'Seit den 90ern hat sie viel verändert. Damals unterstützen wir den  EU-Beitrittswunsch; einige Islamisten meinten deswegen zu uns: 'Ihr seid vom Glauben abgefallen. Bereut und erneuert euren Ehebund [der mit dem Glaubensabfall erlischt-HT].'

Das war die damalige Situation, denn die besagten Islamisten glaubten, dass die Muslime in allen Bereichen 'Systeme' nach eigener Art schaffen mussten. Der Islam sollte ein eigenes politisches und wirtschaftliches System, eine eigene Marktunion, eine eigene 'NATO', ja sogar eine eigene Wissenschaft besitzen. Die höchste 'islamische dawa' bestand darin diese für 'göttlich' gehaltenen Systeme anstelle der 'menschlichen' einzusetzen.

Dieses Denken ging in den Jahren nach 2000 zurück und machte Platz für die 'konservative' Vision der AKP. Aber es ist nicht gänzlich verschwunden. Bei einigen Einwänden gegen die Verteidigung des säkularen Staates durch den Premierminister scheint dieses Denken wieder sichtbar zu werden.

Ich habe zwei grundsätzliche Kritiken an dieser islamistischen Ideologie, die ich hier in Kürze wiedergeben möchte:

System oder Moral?

Meine erste Kritik betrifft die Unterscheidung von 'göttlichem System' und 'menschlichem System', die dieser Ideologie zugrunde liegt. Meiner Meinung nach ist diese Unterscheidung illusorisch. Denn die Dinge, die laut den Islamisten zum 'göttlichen System' gehören, sind in Wirklichkeit auch 'menschlich'. Denn in Koran und Sunna gibt es weder die Beschreibung einer Staats-, noch einer Wirtschaftsstruktur; dort wurden nur Grundsätze dazu formuliert. Was die Islamisten nun machen, ist es ihre auf Grundlage dieser Grundsätze aufgestellten (und um viele reichlich subjektive Deutungen angereicherten) Konstruktionen für 'göttlich' zu halten und diese zu heiligen.

Aus dem selben Grund ist der Islamismus blind dafür, dass islamische Grundsätze manchmal auch durch die Hand von Nichtmuslimen umgesetzt werden können. So übergeht er völlig ungezwungen, dass die von Imam Shatibi [gest. 1388 n. Chr. in Granada - HT] angeführten 'fünf Zwecke der Scharia' (Schutz der Religion, des Lebens, des Eigentums, des Verstandes und der Generation) sehr wohl von den westlichen demokratischen Ländern umgesetzt werden.

Das zweite und noch größere Problem des Islamismus ist, dass sein Systemanspruch das muslimische Denken in einen politischen Utopismus einsperrt und wichtige Themen wie Glaube, Moral und Kultur überspringt.

So wurden in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren tausende Seiten darüber geschrieben, wie eine 'islamische Wirtschaft' aussehen soll. Aber es wurden sehr wenige Überlegungen dazu angestellt, wie die 'Moral des Geldverdienens und -verwendens von Geld durch einen Muslim in einer freien Wirtschaft' aussehen soll (wobei ich zugebe, dass der [Unternehmerverein - HT]  MÜSIAD gute Publikationen in dieser Richtung vorweisen kann).

Ebenso gibt es eine Unmenge an Büchern und Artikeln zur Frage, wie ein 'islamischer Staat' aussehen soll. Aber niemand scheint sich mit der Frage zu befassen: 'Wie betreibt man in einer demokratischen Ordnung eine den islamischen Grundsätzen angemessene Politik?'

Zustand der Anspruchslosigkeit

Kurz gefasst: Weil der Islamismus meint, mit dem Errichten des 'wahren Systems' alle Probleme lösen zu können, befasst er sich nicht viel mit dem 'zivilen' Bereich, beispielsweise mit dem Glauben des Individuums oder der Kultur der Gesellschaft. Wie Hilal Kaplan richtig feststellt: Er beklagt sich über die Säkularisierung (im Sinne einer Entfernung von Religion), aber macht sich keine Gedanken darüber, wie diese auf den Wegen gesellschaftlicher Dynamiken verhindert werden könnte. Deswegen hat er seit jeher die Nurdschu-Tradition, die sich gegen den 'wissenschaftlichen Materialismus' wendet, belächelt, weil diese sich mit 'Blumen und Insekten' befasst.

Wenn wir diese Kritikpunkte anführen, dann antworten die Islamisten meist so: 'Sollen wir nun alle Ansprüche des Islams aufgeben und uns in das globale System integrieren?' Denn ihnen fällt kein anderer 'Anspruch' ein als der ein 'System zu schaffen'.

Aus dem selben Grund werden jene, die die islamistische Ideologie aufgeben, oftmals frei von jeglichen Ansprüchen. Wenn die ehemaligen 'Kämpfer' (tr.: mücahit) zu 'Bauunternehmern' (tr.: müteahhit) werden, dann greift manchmal das Motto: 'Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.'

Dabei ist die größte islamische Angelegenheit im 21. Jahrundert die Frage, wie man in einer offenen, demokratischen und globalen Welt zu guten Muslimen wird, und welche Werte auf welche Weise im Namen des Islams verteidigt werden sollen. Die Zeit sich damit zu befassen ist längst gekommen und läuft ab."

(Quelle: www.stargazete.com)

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Kommentare (2)

  • Serdar
    Serdar
    02 Oktober 2011 at 04:03 | #

    Hayrettin Karaman kommentiert Mustafa Akyol.
    http://yenisafak.com.tr/Yazarlar/?t=02.10.2011&y=HayrettinKaraman

    antworten
  • Ella
    Ella
    03 Oktober 2011 at 19:24 | #

    "Die Zeit sich damit zu befassen...." nehmen sich auf Hakan Turans Blog sehr wenige, die es betreffen sollte. Schade!

    antworten

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